"Immer radikaler"
24. September 2007
Dany Cohn-Bendit, 62, über Baader, Ensslin und die Entstehung der RAF, die Verehrung Ché Guevaras und die Verantwortung der Studentenbewegung für den Terrorismus
SPIEGEL: Herr Cohn-Bendit, Sie haben Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Oktober 1968 beim Prozess wegen der Kaufhausbrandstiftungen in Frankfurt erlebt. Welchen Eindruck hatten Sie von ihnen?
Cohn-Bendit: Ich habe damals im Gerichtssaal erklärt: „Die gehören zu uns.“ Das war nicht gerade das Schlaueste, was man hätte sagen können, aber ich sah ihre Aktion als Happening. Die Kaufhausbrandstiftung war für mich eine Aktion von Leuten, die bekifft waren und die Folgen ihrer Tat nicht bedacht hatten.
SPIEGEL: Sie konnten sich demnach nicht vorstellen, dass Baader und Ensslin bald tödliche Bomben legen würden?
Cohn-Bendit: Heute sind wir schlauer, aber mir erschienen sie damals nicht als angehende Terroristen. Ich habe Gudrun Ensslin im Gefängnis besucht; sie saß in Frankfurt-Preungesheim unter der Obhut der großen liberalen Reformerin des Strafvollzugs, Helga Einsele. Wir haben zu dritt Kaffee getrunken. Es war sehr nett, und ich dachte: Gudrun ist im Grunde die perfekte Sozialarbeiterin.
SPIEGEL: Ensslin und Baader haben nach ihrer Haft zunächst eine Kampagne gegen die antiquierten geschlossenen Erziehungsheime für Jugendliche gemacht.
Cohn-Bendit: Im Zusammenhang mit dieser sogenannten Heimkampagne habe ich auch Baader kennengelernt. Die Kampagne war einerseits getragen von dem sozialen Impetus, diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, andererseits von der totalen Instrumentalisierung der Jugendlichen. Ich habe Baader und Ensslin gesagt: Lasst diese Jugendlichen in Ruhe. Daraufhin zückte Baader seine Mao-Bibel und sagte: „Sie sind die Speerspitze des revolutionären Proletariats.“ Da wurde mir klar, dass er vor nichts zurückschrecken würde, um andere Menschen für seine Zwecke zu funktionalisieren.
SPIEGEL: Fürchteten Sie da, dass Baader und Ensslin morden würden?
Cohn-Bendit: Nein. Französische Freunde, die Baader zusammen mit Ensslin dann nach Paris gebracht haben, sagten mir allerdings: So einen Kotzbrocken wie Baader hätten sie noch nicht erlebt; ein grauenhafter Typ. Er sei mit der Attitüde aufgetreten: „Ich werde eine große Rolle im revolutionären Prozess der nächsten Jahre spielen. Die Welt gehört mir, und ihr habt euch mir unterzuordnen.“
SPIEGEL: Warum verliebte sich Ende der sechziger Jahre ein wesentlicher Teil der Jugend in die Idee der Revolution, die ja meist Gewalt impliziert?
Cohn-Bendit: Wir sagten damals: So wie die Welt ist, wollen wir sie nicht. Und wir sagten: Wir wollen die Welt selbst gestalten. Wir sind dazu fähig. Unsere Eltern und Großeltern haben geschichtlich versagt.
SPIEGEL: Warum adaptierten die Rebellen die alte Ideologie des Marxismus?
Cohn-Bendit: Der Marxismus stellte eine radikale Kritik an der herrschenden Gesellschaftsordnung dar, und in Westdeutschland beispielsweise war er aufgrund des Kalten Krieges tabuisiert. Da aber der real existierende Sozialismus in Osteuropa auch keine attraktive Alternative war, flüchteten die einen nach Kuba, die anderen nach China, nach Vietnam, nach Albanien. Wir Libertären flüchteten in die Geschichte – zu den Anarchisten des Spanischen Bürgerkriegs. Aber wir waren alle nicht in der Lage, aus unserer berechtigten Kritik eine zukunftsfähige und unseren Gesellschaften entsprechende Alternative zu entwickeln.
SPIEGEL: Wie konnte eine anfangs antiautoritäre Bewegung so schnell totalitäre und antidemokratische Ideen bis hin zum Terrorismus übernehmen?
Cohn-Bendit: Der größte Star der antiautoritären Bewegung war Ché Guevara, der einen ebenso radikalen wie autoritären Ansatz vertrat. Er wollte den „Neuen Menschen“ schaffen, und zwar mit Gewalt. Dabei wurde Ché mehr wie eine Pop-Ikone verehrt und diente als ein Objekt sexueller Projektion. Die Bewunderung für ihn, Mao Zedong oder Ho Tschi-minh – das waren doch alles Projektionen unseres Wunsches nach Emanzipation und Befreiung. Der Realitätsgehalt ihrer Texte und das, was sie wollten und taten, wurde nicht geprüft. Wir nahmen sie als Metaphern unserer Wünsche.
SPIEGEL: Welche Rolle spielte die harte Reaktion von Polizei und Justiz auf die Studentenbewegung bei der Entstehung des Terrorismus?
Cohn-Bendit: Der 2. Juni 1967 offenbarte wohlanständigen Studenten, wie schnell man zum Staatsfeind werden kann, wie schnell die etablierte Gesellschaft mit ihrer Propagandamaschine, allen voran die Zeitungen Axel Springers, einem den Kampf erklären kann. Dazu kam, dass über die vollkommen berechtigte Kritik am Krieg der Amerikaner in Vietnam jegliche Diskussion abgeblockt wurde. Das führte zwangsläufig zu einer Entfremdung und Radikalisierung.
SPIEGEL: War die Eskalation nicht mehr zu stoppen?
Cohn-Bendit: Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall haben sich die etablierte Politik und die Justiz beim Kampf gegen die RAF auch radikalisiert. Es gab keinen Moment des Einhaltens und Überlegens mehr. Von der RAF war das nicht zu erwarten, aber den Vertretern des Staates sollte man eine andere Vernunft unterstellen. Heinrich Böll machte den hilflosen Versuch, freies Geleit für Ulrike Meinhof zu fordern. Er wurde als „Sympathisant“ der RAF angegriffen.
SPIEGEL: Gibt es ein spezifisch deutsches Moment bei der RAF?
Cohn-Bendit: Es ist zumindest auffallend, dass die drei Länder, in denen vor bald 40 Jahren die größten und härtesten terroristischen Gruppen der westlichen Welt entstanden, Deutschland, Italien und Japan waren – also die Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs mit faschistischer Vergangenheit.
SPIEGEL: Inwiefern sehen Sie die Terroristen in einer faschistischen Tradition?
Cohn-Bendit: Einerseits hat die Japanische Rote Armee in Kamikaze-Manier, lange vor den Islamisten, die ersten Selbstmordattentate verübt, etwa 1972 auf dem israelischen Flughafen Lod. Auch die moralisierende Rigidität der RAF hat etwas von der Haltung: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Aber der entscheidende Mechanismus war ein anderer, entgegengesetzter: Junge Menschen haben versucht, den Kampf gegen den Faschismus, den ihre Eltern nicht geführt haben, nachzuholen.
SPIEGEL: Muss sich die Neue Linke der sechziger Jahre für den Terrorismus der siebziger Jahre mitverantwortlich fühlen?
Cohn-Bendit: Die ideologischen Versatzstücke der RAF stammen aus der Konkursmasse unserer Revolte. Zudem haben wir nicht klar auseinandergehalten – was heißt Widerstand in einem faschistischen Staat, was ist Widerstand in einer Demokratie? Wir können uns deshalb von einer politischen und moralischen Verantwortung für die RAF nicht freisprechen.
Roland Nelles, Der SPIEGEL