ich kann Sanne nachfühlen, was sie erlebt hat. Als erwachsener Mensch hat man aber die Möglichkeit, das alles hinter sich zu lassen. Dabei ist Schuldzuweisung die denkbar schlechteste Möglichkeit, da man damit die dunkle Vergangenheit in einem selber drinn ständig wieder nährt und so am Leben erhält.
Eigentlich könnte man sich doch auch sagen: "Diese Kindheit liegt hinter mir, gut dass das alles vorbei ist, was kümmert es mich noch?"
Das ist aber umso schwieriger als das eigene Ego ständig bestätigt hören will "ich armes Schwein (bin ganz allein)" und "denen gehört ganz gewaltig eins ausgewischt, die sollen dafür büssen", quasi als Genugtuung
Lieber Phil,
Deine Worte zeigen mir deutlich, dass Du keineswegs nachfühlen kannst, was ich erlebt habe und was ich tagtäglich erlebe. Die Erfahrungen meiner Kindheit bestimmen auch heute noch mein Handeln und meine Gefühle. Die ganze Tragweite dieses Dilemmas ist mir erst in letzter Zeit bewußt geworden. Ich schreib hier immer "Licht und Liebe" unter meine Artikel. Tatsache ist, ich kann nicht lieben, denn ich weiß gar nicht was das ist. Ich kann bis heute niemandem wirklich vertrauen, außer meiner Schwester, die meine Vertraute in der Kindheit war, und auch ihr vermag ich nicht alles zu sagen. Und das schlimmste: ich kann mir selber nicht vertrauen, ich weiß nie, was ich fühlen soll, ich weiß nie, ob etwas gut für mich ist. Das "Bauchgefühl", die Intuition, das würde ich so gerne fühlen, aber ich kann es nicht. Alles ist letztendlich nur der verzweifelte Versuch, der unendlichen Einsamkeit und Trauer zu entkommen, endlich die Liebe (m)einer Mutter zu bekommen, die jedem Kind zusteht - egal von wem, egal, was ich dafür tun muss. Inzwischen habe ich wenigstens begriffen, dass das nicht mehr möglich ist. Es muss doch aber wenigstens erlaubt sein, sich dieser Trauer und diesem Schmerz, hier unter verständigen Menschen, unter Freunden (?) stellen zu dürfen, damit man sie bewältigen und hinter sich lassen kann.
Bitte, Phil, stell Dir das kleine Mädchen vor, vielleicht sechs Jahre alt (an früheres habe ich jede Erinnerung verloren), vielleicht 120 cm groß, völlig fassungslos darüber, dass die eigene Mutter wahllos auf es einschlägt, völlig außer Kontrolle, mit einem Kochlöffel, mit einem Kleiderbügel, dass sie es kneift, sogar beißt, bitte, stell es Dir bildlich vor, dass sie es anschreit. Stell Dir die Schmerzen vor, körperlich und seelisch. Stell Dir das Mädchen mit 13, 14 Jahren vor, wie es sich vor seine Mutter kniet und bettelt: Bitte nicht schlagen. Stell Dir vor, dass dieses Kind nie die Mutter verraten hat, dass es nie nach außen getragen hat, was da zu Hause geschieht. Dass Solidarität mit der Familie, mit den Eltern ihm mehr galt als Solidarität mit sich selbst. Dass das Eingeständnis der Grausamkeiten bedeutet hätte, sich auch einzugestehen, dass die eigene Mutter es nicht lieben kann. Und jetzt sag noch einmal von oben herab, dass ich diese Kindheit hinter mir hab, und was es mich noch kümmern soll! Würde man ein fremdes Kind so behandeln, käme man ins Gefängnis.
Was ich jetzt gebraucht hätte, wäre Einfühlungsvermögen und Mitgefühl und keine Klugen Ratschläge, die sich wie eine Ohrfeige anfühlen. Wie das, was ich immer zu hören bekommen habe: zu faul, zu dumm, zu wehleidig, selbst Schuld, nicht um meiner selbst Willen liebenswert, Anerkennung nur gegen Leistung.
Ich will auf keinen Fall, dass meine Eltern "eins ausgewischt bekommen". Und dass Du so von mir denkst macht mich traurig. Im Gegenteil: Ich will VERSTEHEN. Ich weiß nicht sehr viel über die Kindheit meiner Mutter, aber ich weiß, dass auch sie mißhandelt wurde. Ich hatte in letzter Zeit öfter die Phantasie, dass wir beide uns als kleine Mädchen begegnen und uns in den Arm nehmen und uns gegenseitig trösten. In der Realität können wir uns nicht in den Arm nehmen. Dass meine Mutter mich als Kind in den Arm genommen hat, daran kann ich mich nicht erinnern. Bei uns gab es nie liebevolle Berührungen. Ich habe lange Zeit alles verdrängt, ich habe lange Zeit ein scheinbar gutes Verhältnis zu meinen Eltern gehabt, aber unter diesem Schein lag mein Sein in Angst und Trauer und Einsamkeit.
Vielleicht kann ich ja eines Tages tatsächlich all das hinter mir lassen. Aber jetzt bin ich noch nicht so weit.
Wenn ich wenigstens konsequent wäre, würde ich hier nicht mehr über meinen Kummer berichten!
Sanne