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03.11.2021, 16:00 Uhr
Sechs Wochen Angst - Albtraum in bayerischen Kinderkurheimen
Kinderkuren boomten ab den 50ern: Als Verschickungskinder verbrachten selbst Kleinkinder Wochen in Heimen, deren oberstes Ziel es oft war, messbare Kurerfolge zu erzielen. Viele leiden darunter bis heute. Eine Story von BR Recherche und Kontrovers.
Von
Christian Stücken
Christiane Hawranek
Lisa Wreschniok
Das Dokument, das dem BR vorliegt, ist 45 Jahre alt und gibt einen kleinen Einblick in das,
was in Kinderkurheimen geschah. Der sogenannte Kurüberwachungsschein beschreibt den gesundheitlichen Zustand eines siebenjährigen Jungen, der im Jahr 1976 auf einer Kinderkur in Bayern war. 20 Kilo wog er zu Beginn seines Aufenthalts, nach sechs Wochen hatte er angeblich 2,5 Kilo zugenommen, ganz im Sinne des ärztlich definierten Kurzieles: "Allgemeinzustand sehr verbessert, Sollgewicht fast erreicht", notiert der Kurheimarzt.
Einsatz von medizinischen Appetitanregern?
Auch vermerkt auf dem Schein ist die Medikation: Der Junge sollte neben Aufbaumitteln ein Medikament namens Nuran bekommen. Nuran ist ein Medikament mit einem Wirkstoff, der eigentlich bei Allergien eingesetzt wird. Der gesteigerte Appetit ist eine der bekannten Nebenwirkungen - neben Schläfrigkeit oder Sehstörungen. Bei höherer Dosierung drohen Halluzinationen.
Der Kurüberwachungsschein wurde vom Heimarzt des Klosters Wessobrunn ausgestellt. Das Kloster südlich des Ammersees warb damit, dass die Kinder auf der sechswöchigen Kur viel Bewegung und frische Luft bekommen sollten. Kränkliche Kinder sollten so gesünder werden, dicke Kinder abnehmen und dünne Kinder zunehmen. Quer durch Deutschland wurden daher Kinder mit Zug und Bus meist auf Empfehlung von Ärzten nach Wessobrunn geschickt. Verschickungskinder nannte man sie. Für manche von ihnen wurde der Aufenthalt zur Qual.
Essenszwang und Isolation ...