Die Medicuräer u.das Lebenselixier

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Eine schöne Geschichte....

Es war einmal ein Land, da hatten alle genug zu essen. Und da man das für ein sicheres Zeichen von Wohlstand hielt, glaubte man, nun habe man den Wohlstand. Nur fühlte sich komischerweise keiner wohl. Die meisten Menschen hatten viele Krankheiten und Sorgen. Viele hatten ständig wiederkehrende Probleme wie Kopfschmerzen, Müdigkeit und Verstopfung, viele fühlten sich zu dick oder frühzeitig gealtert. Dies alles hielt man noch für so normal, dass man es für kein Zeichen einer Krankheit hielt. Viele bekamen aber auch Gelenkprobleme oder ein Herzleiden, so dass sie ihren Sport oder sogar ihren Beruf nicht mehr ausüben konnten. Die Alten hatten allerhand Beschwerden, die sie zu schmerzgeplagten Krüppeln machten. Daran hatte man sich schon so gewöhnt, dass man diese Krankheiten als Alterskrankheiten bezeichnete. Man meinte also, im Alter wäre das ganz normal. Als dann der Wohlstand noch mehr zunahm, stellte man fest, dass immer jüngere Menschen an diesen „Alterskrankheiten" erkrankten. Also waren es doch keine Alterskrankheiten.

Aber was waren diese Krankheiten?

Woher kamen sie?

Wie konnte man sie wieder loswerden?

Zum Glück brauchten sich die Menschen über solche Fragen nicht den Kopf zerbrechen. Denn von einem fernen Planeten war ihnen Hilfe gesandt worden: Halbgötter in Weiß waren inmitten chromblitzender rätselhafter Apparaturen auf die Erde gebeamt worden und mitten unter den Erdlingen erschienen. Da sie von dem fernen Planeten Medicur kamen, sprachen sie eine Sprache, die niemand verstand, nämlich medicuräisch. Aber das machte nichts, denn sie vermochten sich immerhin soweit in der Sprache der Menschen zu artikulieren, dass sie ihnen sagen konnten, welche Pillen ihnen helfen würden und wie oft sie sie einzunehmen hätten.

Eine Konsultation bei einem Medicuräer sah also etwa so aus:

Der Patient war zunächst einmal von Ehrfurcht erfüllt ob der chromblitzenden Apparaturen und der medicuräischen Fremdworte. Hierüber vergaß er all das zu erzählen, was er eigentlich dem Halbgott in Weiß zu erzählen sich vorgenommen hatte: Von seinen Sorgen und Problemen, seinen Lastern und Gewohnheiten, seinen Ängsten und Schmerzen. Und das war auch gut so, dass er das vergaß, denn schließlich schwebte so ein Halbgott in Weiß hoch über diesen irdischen Dingen, abgesehen davon, dass er fast nur medicuräisch verstand. Schließlich waren die Medicuräer nicht zum Schwätzen auf der Erde, sondern um sich der hochheiligen Aufgabe des Heilens zu widmen. Und dabei sollte man sie natürlich nicht unnötig mit seinem irdischen Geschwätz stören.

Vor ihrer Mission auf der Erde waren den Medicuräern immerhin 3 Sätze in der Menschensprache beigebracht worden, die jeder beherrschen musste:„Machen sie sich bitte frei."„Nehmen sie diese Tabletten dreimal am Tag und kommen sie in X Wochen wieder."„Haben sie ihr Kärtchen schon vorne einscannen lassen?"

Diese grundsolide Ausbildung in menschlicher Kommunikation bildete die Basis für den segensreichen Austausch zwischen den Medicuräern und den Erdlingen, von welchem sich Letztere Heilung und Hilfe erhofften. Und Erstere, die Medicuräer, lebten nicht schlecht davon.

Zurück zum Ablauf einer solchen Konsultation: Der Patient kam also gar nicht zum Reden, sondern machte sich frei und wurde sogleich in einen der chromblitzenden Apparate gesteckt. Das diente nicht etwa einer Erfrischung seiner Lebenskräfte oder gar einer Heilung, sondern lediglich der Bestimmung seiner Krankheit. Als dann der Patient aus dem Apparat wieder herauskam, erhielt er einen Vortrag auf medicuräisch, von dem er natürlich kein einziges Wort verstand. Nur aus der gerunzelten Stirne des Medicuräers und dem Tonfall seiner Stimme konnte er den Ernst der Lage schließen. Dieser Vortrag endete mit einem wichtigen Wort auf medicuräisch, das sich der Patient sofort einprägte und wofür er überaus dankbar war. Dieses Wort war nämlich der medicuräische Name seiner Krankheit. Das bedeutet so etwas wie eine Zauberformel, durch die man nun den Kampf mit dem bösen Feind aufnehmen konnte. Die Therapie war nun gefunden, denn sie bestand darin, dass der Medicuräer für jeden medicuräischen Krankheitsnamen sogleich die medicuräische Bezeichnung für eine Chemikalie nennen konnte. So schickte er also den Patienten für die Therapie in eine eigens dafür eingerichtete Chemikalienhandlung. Unglaublich, wie abergläubisch die Menschen damals noch waren, nicht wahr?

Bei alledem bot oder versprach der Medicuräer nicht etwa eine Heilung, sondern er versprach ein lebenslanges Leiden, eine andauernde Quälerei zwischen Leben und Tod, eine unablässige Folge von unangenehmen Prozeduren und Anwendungen, die genauestens eingehalten werden müssten. Trotz alledem waren die Patienten nach einer solchen Konsultation überaus dankbar. Vollkommen nierdergeschlagen, mit einer Aussicht auf ein lebenslanges Leiden, aber dennoch voller Dankbarkeit und ohne jeden Zweifel in die erhabene Kunst der Medicuräer machten sie sich auf den Weg zur nächsten Chemikalienhandlung. Diese merkwürdige und aus heutiger Sicht völlig widersinnige Reaktion der Patienten muss man verstehen, denn der Medicuräer hatte ihnen erklärt, dass alles noch viel schlimmer werden würde, wenn man seine Chemikalien nicht nähme. Natürlich hätte man da fragen können, was denn schlimmer sein solle als die Hölle auf Erden, aber diese Frage wurde aus einem ganz einfachen Grund nicht gestellt: Durch das eine medicuräische Zauberwort hatte der Halbgott in Weiß dem Patienten zu einer neuen Identität verholfen. Vorher war man nur ein Mensch, der hustete und nach Luft schnappte, nachher war man „Asthmatiker". Vorher war man nur ein Mensch mit schmerzenden Gliedern, der Schwierigkeiten hatte, seiner Arbeit nachzukommen, nachher war man „Rheumatiker". Man war wieder wer! Durch diese Beförderung in den Adelsstand der von Krankheit Gezeichneten hatte man eine neue Aufgabe erhalten, eben die medicuräischen Therapien genau einzuhalten, und das wollte man sich ja nicht wieder durch vernünftige Überlegungen oder gar durch eine Heilung nehmen lassen. Die Menschen waren so ausgehungert nach einer Identität, weil sie nicht wussten, wo sie sonst eine herbekommen sollten. Das war auch die wahre Mission der Medicuräer auf der Erde: nicht etwa zu heilen, sondern den Menschen eine neue Identität zu geben. Deshalb waren die Menschen auch so dankbar und erwarteten überhaupt gar keine Heilung von den Medicuräern: Eine Heilung hätte ihre neugefundene Identität ja sofort wieder zunichte gemacht!

Nein, es war ja eben umgekehrt: Mit so einer richtigen Krankheit, die durch die medicuräische Bezeichnung beglaubigt, geadelt und gewürdigt worden war, pflegte man vor allen Menschen auszudrücken, wie sehr man sich in seinem Leben für die Menschheit abgenutzt hatte und wie sehr einem die anderen Menschen bloß Kummer und Sorgen bereitet hatten, was alles zu der Krankheit geführt habe. So hatte also so ein richtiger Titelträger einer medicuräischen Krankheit etwas von einem Märtyrer, und am höchsten in der Rangfolge der medicuräischen Krankheiten standen natürlich die, die zum Tode führten. Die durch eine solche Krankheit Geadelten waren schon Jesus gleich zu nennen. So arbeiteten also die Patienten unter medicuräischer Anleitung zielstrebig darauf hin, in dieser Rangfolge aufzusteigen. Was sollten sie denn da mit "Heilung" anfangen? Ja, was sollte denn ein „Gesunder" in dieser Rangfolge bedeuten? Um die Sache also auf den Punkt zu bringen: Ein Gesunder stand in der medicuräischen Rangfolge ganz unten! Ein Gesunder war logischerweise jemand, der noch völlig ahnungslos im Leben stand, einer, dem es einfach zu gut ging, ein Mensch ohne Identität, ein Niemand, der Zusammenarbeit mit den medicuräischen Halbgöttern eben noch unwürdig. Das konnte ja wirklich kein lohnendes Ziel sein. Deshalb standen die Menschen bei den Medicuräern Schlange und hofften nur, dass ihre Symptome ausreichen würden, auch einen Rang in der Hierarchie der Kranken zu ergattern.

So funktionierte also die Zusammenarbeit zwischen den Medicuräern und den Erdlingen über viele Jahrhunderte ganz hervorragend. Und die Medicuräer lebten, wie gesagt, nicht schlecht davon. Jeder hatte, was er wollte: Der Patient bekam eine Identität, während er durch den Gang zur Chemikalienhandlung so tun konnte, als würde er etwas für die Gesundheit tun. Die Medicuräer und ihre irdischen Handlanger, die Chemikalienhersteller und die Chemikalienhändler, bekamen Anerkennung und Reichtum.

Zwar gab es da immer mal wieder Störenfriede, die herausgefunden haben wollten, wie man ohne Chemikalienhandlung die Krankheiten wirklich und tatsächlich heilen könnte, aber man konnte sie immer schnell als „Scharlatane" verunglimpfen. Es brauchte nicht viel, die Erdlinge davon zu überzeugen, dass so etwas völliger Blödsinn sein musste, da sie ja an wirklicher Gesundheit aus den oben beschriebenen Gründen gar nicht interessiert waren.

Zu dieser merkwürdigen Zeit, wie es sich für uns Heutige aus dem großen Abstand heraus ganz unglaublich anhört, lebte ein junger Mann, der sich seinen Lebensunterhalt als Altenpfleger in einem Altenheim verdiente. Dort lernte er die vielfältigen Krankheiten, ihre Symptome und ihre Rangfolge vom Anfänger bis zum Fortgeschrittenen in der anschaulichsten Eindrücklichkeit kennen. Er pflegte die Patienten und gab ihnen drei mal am Tag ihre von den Medicuräern verschriebenen Chemikalien. Aber er wollte sich einfach nicht damit abfinden, dass es auch sein Schicksal sein sollte, später einmal so zu enden: halbblind und halbtaub zu werden oder im Rollstuhl zu sitzen oder halbseitig gelähmt mit suppenden faustgroßen Wunden ans Bett gefesselt zu sein. Er konnte auch nicht glauben, dass es sich um Alterskrankheiten handeln sollte, um Krankheiten also, die von Natur aus zu diesem Lebensabschnitt dazugehörten.

Es musste doch einen Ausweg geben!

Hatten nicht die Alchemisten längst versunkener Zeitalter einmal ein sagenumwobenes Lebenselixier gefunden, das es ihnen erlaubte, bis ins hohe Alter gesund zu bleiben? Dieses Lebenselixier musste er finden! So begab er sich denn auf die Suche nach der entsprechenden Alchemisten-Literatur. Das Überraschende daran war, dass diese Suche gar nicht so schwierig war. Die Alchemisten des Lebenselixiers hatten zu allen Zeiten gelebt, waren also gar nicht so weit weg. Manche waren erst seit wenigen Jahrzehnten verstorben, manche lebten sogar zu Zeiten des jungen Mannes immer noch! Ihre Literatur wurde zwar weder in den Schulen gelehrt, noch von den Medicuräern gelesen, aber sie war jederzeit in den Buchhandlungen erhältlich. Sie lag zwar oftmals in hinteren Ecken und Winkeln, aber wenn man danach fragte, bekam man sie. Der junge Mann fragte danach, denn er verzichtete darauf, in der medicuräischen Rangfolge aufzusteigen, er hatte sich für sein Leben andere Ziele gesteckt. Die Literatur über das Lebenselixier war auch in keiner Weise geheimnisvoll oder schwer verständlich. Zwar weichten die Autoren in den Zutaten immer ein wenig voneinander ab, aber eine große Linie war klar erkenntlich, die alle verband. Es gab vier Ingredienzien, die bei den meisten Alchemisten wiederkehrten. So war also das Lebenselixier gefunden! Der junge Mann probierte es natürlich sofort bei sich aus und hatte verblüffende Resultate. Er erzählte es jedem, der davon hören wollte. Komischerweise wollten nicht viele Menschen davon hören. Und bei denen, die anfänglich Interesse zeigten, waren die Geldbeutel, durch die die Medicuräer so ein auskömmliches Erdendasein genießen durften, sofort verschlossen, sobald sie die Zusammensetzung des Lebenselixiers erfuhren. Es bestand aus den vier Ingredienzien:ErnährungBewegungEntspannungPositives Denken.

An erster Stelle stand die Ernährung. Demnach war ein wirklicher Wohlstand nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass man genug zu essen hatte, sondern auch dadurch, dass man das Richtige aß. Das wurde bei den Alchemisten genauestens beschrieben. Es war so einfach, gesund zu werden und zu bleiben, hier war das universelle Heil- und Vorsorgemittel: Man brauchte bloß lernen, wie man sich richtig ernährt, und auch die anderen drei Ingredienzien beachten - fertig war das Lebenselixier!

Die meisten Menschen hatten natürlich damit gerechnet, dass es sich bei dem Lebenselixier um ein Mittel zum Einnehmen handelte, wie sie es von den Elixieren beim Chemikalienhändler ja gewohnt waren. Für ein solches Elixier wäre ihnen kein Preis zu hoch gewesen. Als sie aber begriffen, dass sie als Laien dieses Elixier selber herzustellen hatten, da wussten sie ganz genau, dass es nichts taugen konnte. Da wandten sie sich doch lieber an den studierten Fachmann, der ihnen die Elixiere fix und fertig zusammenbraute. So brauchten sie sie nur noch einnehmen.

Der junge Mann verstand nicht recht, ob die Menschen wirklich meinten, die Medicuräer würden sie gesund machen oder ob sie gar nicht ernsthaft an ihrer Gesundheit interessiert waren. Aber das war ihm letztlich egal, denn er wusste eines: Er war an seiner Gesundheit interssiert! So nahm er jeden Tag einen großen Schluck von seinem selbstgebrauten Elixier und verbesserte über die Jahre allmählich die Zutaten bis zur Vollkommenheit. Er überwand all die Krankheiten und Sorgen, die sonst alle Menschen um ihn herum bedrückten. So lebte er gesund und glücklich bis ins hohe Alter.

Zwar bot er das Lebenselixier auch immer wieder seinen Mitmenschen an, aber es waren nur ganz Wenige, die wirklich interssiert waren und die seine Bedeutung erkannten. Es waren vor allem diejenigen, die die wahre Identität der Menschen erahnten: als Kinder Gottes Seine Ebenbilder zu sein, was auch eine vollkommene Gesundheit beinhaltete. Oder glaubten die Menschen, die Schaltzentrale des Universums wäre vorübergehend geschlossen, weil Gott mit einer Grippe im Bett läge? Wie sollte man den Vorstellungen der Menschen, die ihr merkwürdiges Verhalten begründen konnten, auf die Spur kommen?

Über so eine merkwürdige Gesellschaft, wie sie damals die Erde bevölkerte, kann man doch heutzutage nur den Kopf schütteln, oder?

Sebastian Stranz 07/05

Uta
 
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Lebenselexier?
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