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Hier beschäftigt sich ein Professor von einem Lehrstuhl für Kulturgeschichte mit "ASkese und Sucht" (vor allem Anorexie = Magersucht).
Ausschnitt:
Wenn ich mir diesen Satz ansehe:
Der Eindruck, daß die Welt zu meiner "Bedienung" da ist - also für meine Bedürfnisse zu sorgen hat, hängt sicher u.a. mit der Fülle, die äußerlich häufig geboten wird und der Leere, die innen trotzdem besteht, zusammen.
Die Askese der mittelalterlichen Mystiker war genau in dem Punkt anders: Diese Mystiker konnten sich kasteien und damit glücklich sein, weil sie es mit einem Ziel taten: der Annäherung an Gott.
Ohne Ziel ist so ein Verhalten nur selbstschädigend und zerstörerisch.
Insofern muss jede Therapie versuchen, den Selbstwert aufzubauen und die Freude am Aufbau inneren und äußeren Lebens zu wecken und zu festigen.
Dieses Buch hier wird als Pflichtlektüre in manchen psychosomatischen Kliniken, die mit Magersüchtigen arbeiten, vorgeschrieben:
www.ffl.at/PDF/Johnston.pdf
Gruss,
Uta
Ausschnitt:
Neue Askese?Das Christentum war - ebenso wie das Judentum - eine nahöstliche Wüstenreligion; eine Religion des agrarischen Lebens, Ausdruck seiner Hoffnungen, Ängste und Leidenschaften; eine Religion, die sich in den Städten zwar als machtpolitischer Faktor, nicht aber als Glaubenssystem zu etablieren vermochte. Die christliche Religion war eine Hungerreligion, deren zentrales Sakrament ein gemeinsames Mahl bildete: zu den Mysterien von Brot und Wein gehörte auch die Plackerei der landwirtschaftlichen Arbeit. Nicht umsonst sprachen die Gleichnisse des Neuen Testaments durchwegs zu Bauern und Fischern; sie erzählten vom Weinberg, von wundersamer Brotvermehrung, von Aussaat und Ernte, von Senfkörnern, Sauerteig oder von der Versuchung, Steine in Brot zu verwandeln. Die Predigt über die Vögel, die weder säen noch ernten, und dennoch ein glückliches Leben fristen, wendete sich selbstverständlich an Bauern, und nicht an ein städtisches Publikum, - ebenso wie das Gebet um »das tägliche Brot« oder die beinahe deliranten Versicherungen: "Ich bin das Brot des Lebens" und "Ich bin der wahre Weinstock".8 Wie viele andere Religionen hat auch das Christentum als Religion des agrarischen Zeitalters reüssiert: als ein dramatischer Versuch, die Qualen des Hungers in spirituelle Energien zu übersetzen. Die Askese figurierte als Antwort auf die mit Sündenfall und Brudermord assoziierten Mühen bäuerlicher Existenz, als die paradoxe Übung, just in bitterster Not das Paradies eines aufgehobenen und erlösten Begehrens zu schmecken.
Nicht zufällig läßt sich jener Prozeß einer gesellschaftlichen Entmachtung des Christentums, den Nietzsche als »Tod Gottes« reflektierte, mit dem Sieg des industriellen Zeitalters über die agrarische Kultur synchronisieren. Die Stelle des »Hungerkünstlers« wurde von einem Raubtier besetzt; die Stelle des »ewigen Lebens« vom Versprechen unendlicher Fortschritte; die Stelle der Askese vom Puritanismus fleißiger Unternehmer. Im Dienste kapitalistischer Expansion wurden die asketischen Ideale säkularisiert und den Interessen der Profitmaximierung angepaßt. Während das Mittelalter den Stand der Bettelmönche respektierte und gelegentlich sogar glorifizierte, wurde die neuzeitliche Armut in die Nähe von Krankheit oder Sünde gerückt; John Wesley, der Begründer des Methodismus, dekretierte folgerichtig: "Wir müssen alle Christen ermahnen, zu gewinnen was sie können, und zu sparen was sie können, das heißt im Ergebnis: reich zu werden."9 Mit der Durchsetzung puritanischer Lebens- und Arbeitspraktiken wurde die gesellschaftliche Macht des Hungers gebrochen; der puritanische Asketismus bezog sich schließlich nicht mehr auf Ernährung, sondern stattdessen auf Lebenszeit und Sexualität. »Zeit ist Geld«, wußte Benjamin Franklin, und diese Zeit wurde gespart: in den Ehebetten, Bordellen und an allen übrigen Orten, die dem puren Spaß, der Verschwendung von Geld, Samen und »Freizeit« dienen konnten. In den letzten drei Jahrhunderten wurde die moderne Askese generiert: eine Komposition aus Arbeitssucht und Aktivismus, Streß und Zeitdruck, Einsamkeit und Depression, eine traurige Mixtur aus Sexismus, Kinderfeindlichkeit und zölibatärer Impotenz.
5.
Die Anachoreten und Hungerkünstler wurden begraben, durch junge Panther oder Top-Manager ersetzt, aus ihren Klöstern, Zellen, Gitterkäfigen vertrieben, und schließlich in die geschlossenen Abteilungen psychiatrischer Anstalten eingeliefert. Die zeitgenössische Hungerkunst gilt als Krankheit; sie trägt den gelehrten Titel Anorexia nervosa, zu deutsch: Magersucht. Die Mediziner halten sie für ein »neues« Leiden, manchmal für eine »Modekrankheit«. Sie befällt vorzugsweise junge Mädchen, häufig bereits in alarmierenden Grössenordnungen; aber sie soll noch in keinem einzigen unterentwickelten Land aufgetreten sein. Die Anorexie ist - nach Ansicht mancher Therapeuten - ein Zivilisationsleiden, eine Art von »Wohlstandskrankheit« wie der Herzinfarkt. Mystische oder ekstatische Motive der modernen Asketinnen wurden bis heute nicht entdeckt; ganz im Gegenteil: "Gleichgültig, zu welchen religiösen Überzeugungen sie sich bekennen, sie sind stets schematisch, starr und ganz ohne Liebe".10 Zwar hat der Historiker Rudolph M. Bell versucht, Isomorphien zwischen den Lebensläufen weiblicher Heiligen aus dem 12. Jahrhundert und aktuellen Fallgeschichten der Anorexie zu eruieren;11 aber seine Schlußfolgerungen blieben zweifelhaft, weil sie eine entscheidende Differenz ignorierten. Die mittelalterlichen Mystikerinnen lebten in einer askesetechnisch versierten und hochgradig bewußten Kultur: beispielsweise war von vornherein klar, daß Fasten nur als ein Mittel zur Ekstase, niemals jedoch als Selbstzweck in Betracht kommen durfte; schon die byzantischen Wüstenheiligen hatten davor gewarnt, die euphorischen Gefühle, welche durch Hungerpraktiken erzeugt werden können, mit Offenbarungen zu verwechseln.
Holy Anorexia. Wie ein fernes Echo der alten asketischen Maximen klingen manche Aufzeichnungen der französischen Philosophin Simone Weil, die im Alter von vierunddreißig Jahren an Hunger und Auszehrung gestorben ist. Wenige Monate vor ihrem Tod - mitten im Zweiten Weltkrieg - notierte sie etwa: "Nichtgestilltes Verlangen, unersättlich durch sich selbst. Die Unmöglichkeit, es zu stillen, ist seine Wahrheit, die Hoffnung, es zu sättigen, ist falsch. [...] In der wesentlichen Nicht-Sättigung berührt man eine andere Wirklichkeit, besitzt man auf eine andere Art. Jedes Begehren, wenn man ihm seine Aufmerksamkeit zuwendet, ob (relativ) erfüllt oder nicht, ist ein Weg zur Nicht-Sättigung." Und an einer anderen Stelle: "Der ewige Teil der Seele nährt sich von Hunger. Wenn man nicht ißt, verdaut der Organismus sein eigenes Fleisch und verwandelt es in Energie. Die Seele ebenfalls. Die Seele, die nicht ißt, verdaut sich selbst. Der ewige Teil verdaut den sterblichen Teil der Seele und verwandelt ihn. Der Hunger der Seele ist hart zu ertragen, aber es gibt kein anderes Heilmittel für die Krankheit. Bei lebendigem Leibe den vergänglichen Teil der Seele Hungers sterben lassen."12
Unzweifelhaft werden in solchen Sätzen anorektische Symptome artikuliert. Was Ludwig Binswanger - anläßlich der bemerkenswerten Krankengeschichte von Ellen West - analysierte: eine existentielle Leere, die den Affekt der Gier, als Verwechslung von Fülle und Völle, zugleich provoziere wie verleugne,13 oder was Frederick S. Perls als den paranoischen Drang nach narzißtischer Fusion charakterisierte,14 läßt sich umstandslos auch den Notizen Simone Weils entnehmen. Aber diese Symptome stehen im Schatten einer subtilen, theologisch inspirierten Idee des Begehrens. Die Revolutionärin, Neo-Gnostikerin, Anarchistin und Übersetzerin der Upanishaden verstand die asketische Haltung als eine Art von reflexiv aufgeklärter Sehnsucht: als eine Sehnsucht, die sich der Illusion entledigt hat, durch irgendeinen Menschen oder durch irgendein Objekt erfüllt werden zu können, ohne darum an ihrer Unstillbarkeit zu zerschellen. Das Zeichen »Gott« bedeutete ihr nichts anderes, als die Möglichkeit solchen Begehrens und solcher Sehnsucht: "Von zwei Menschen ohne Gotteserfahrung ist der, welcher ihn leugnet, ihm vielleicht am nächsten
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Wenn ich mir diesen Satz ansehe:
dann denke ich, daß die heutige Magersucht oder Diätsucht oder pro-ana-Bewegung der äußerliche Ausdruck dieser inneren Sehnsucht ist, von außen befriedigt zu werden. Die Welt als Selbstbedienungsladen, der nicht wirklich funktioniert. -verstand die asketische Haltung als eine Art von reflexiv aufgeklärter Sehnsucht: als eine Sehnsucht, die sich der Illusion entledigt hat, durch irgendeinen Menschen oder durch irgendein Objekt erfüllt werden zu können, ohne darum an ihrer Unstillbarkeit zu zerschellen.
Der Eindruck, daß die Welt zu meiner "Bedienung" da ist - also für meine Bedürfnisse zu sorgen hat, hängt sicher u.a. mit der Fülle, die äußerlich häufig geboten wird und der Leere, die innen trotzdem besteht, zusammen.
Die Askese der mittelalterlichen Mystiker war genau in dem Punkt anders: Diese Mystiker konnten sich kasteien und damit glücklich sein, weil sie es mit einem Ziel taten: der Annäherung an Gott.
Ohne Ziel ist so ein Verhalten nur selbstschädigend und zerstörerisch.
Insofern muss jede Therapie versuchen, den Selbstwert aufzubauen und die Freude am Aufbau inneren und äußeren Lebens zu wecken und zu festigen.
Dieses Buch hier wird als Pflichtlektüre in manchen psychosomatischen Kliniken, die mit Magersüchtigen arbeiten, vorgeschrieben:
www.ffl.at/PDF/Johnston.pdf
Gruss,
Uta