Ich bin seit über drei Jahren Veganer. Ich wäre aber strikt dagegen, daß sich mein jüngerer Sohn (12) vegan ernährt.
Nicht damit wir uns falsch verstehen: es ist sehr wohl möglich, ein Kind vegan zu ernähren. Aber das ist eine Wissenschaft für sich. Und niemand kann heute mit Bestimmtheit sagen, ob und welche Stoffe nur in tierischen Produkten vorkommen, die aber für den Menschen essentiell sind.
Vitamin B12 ist als Problem bekannt. Dafür gibt es Nahrungsergänzungen oder spezielle Indoor-Chlorella-Sorten mit definiertem B12-Gehalt. Für alle anderen bekannten essentiellen Stoffe gibt es pflanzliche Alternativen. Aber niemand kann mit Bestimmtheit sagen, ob schon alle essentiellen Stoffe erkannt worden sind.
Das nächste Problem ist, daß die pflanzlichen Alternativen oft schwer in ausreichender Menge zu beschaffen oder zubereiten sind. Und nicht alles, was gesund und in bestimmten Mengen gebraucht wird, schmeckt einem Kind.
Oft entzieht sich mein Kind meinem Einflußbereich (Schule, Kindergarten, Klassenfahrt, Besuche usw.). Wenn mein Kind sich vegan ernähren soll, muß ich gleichzeitig vollwertige Alternativen zur Mischernährung anbieten. Das ist in der Praxis aber oft unmöglich.
Das gesellschaftliche Problem: mit einer solchen Ernährung wird mein Kind zum Außenseiter, kann nie mit den anderen mitessen, ist ausgegrenzt, hat ständig eine Sonderrolle, die allen Beteiligten auf den Keks geht.
Der Spaßfaktor. Man sollte es nicht unterschätzen, was Mischessen für einen Genuß und Spaßfaktor hat. Warum soll ich mein Kind dazu verurteilen, nicht zu wissen, wie Fischstäbchen schmecken, Joghurt, Fruchtquark usw.
Die freie Entscheidungsmöglichkeit: man sollte seinem Kind schon einen gewissen Entscheidungsspielraum lassen. Klar müssen Unmengen Zucker und Cola verboten werden. Aber man sollte seinem Kind im Wesentlichen die Wahl der Speisen überlassen und nur bei drohender Extremernährung eingreifen. Geschicktes Lenken zu wirklich gesünderen Alternativen ist natürlich erlaubt.
Es gibt bei fast jeder Pflanze gewisse Stoffe, die für den Menschen nachteilig oder gar schädlich sind (z.B. Stoffe, die Fraßfeinde abwehren oder gar töten). Mit den meisten dieser Stoffe kann der menschliche Organismus sehr gut umgehen. Aber nicht mit allen. Und auch die Stoffe, die er gut unschädlich machen kann, stellen dennoch eine Belastung für den Organismus dar. Vor allen Dingen, wenn bestimmte Pflanzen nun nicht mehr nur ab und zu, sondern in Massen gegessen werden. Bekanntes Beispiel ist die Sojabohne, die z.B. als Tofu einen bremsenden Einfluß auf die Schilddrüse hat oder das Solanin in den (nicht nur) grünen Teilen von Tomate und Kartoffel. Hier sind in Zukunft die Pflanzenzüchter gefragt, verträglichere Pflanzen zu züchten.
Der Geldfaktor, der Zeitfaktor: wirklich vollwertige und abwechslungsreiche vegane Kost ist teuer und man benötigt viel Zeit, um sich erst mal das notwendige Wissen anzueignen, die Zutaten zu besorgen und die Menüs zuzubereiten. Da in vielen Familien Geld und/oder Zeit rar sind, würde sich das auf die Ernährungsqualität vegan ernährter Kinder auswirken.
Der Mensch ist von seiner Anlage her ein Mischfutter-Verwerter. Deshalb fehlen ihm einige Mechanismen, um bestimmte essentielle Stoffe herzustellen.
Es ist aber mit einer höheren, fortschrittlichen Ethik unvereinbar, Tiere mehr als vermeidbar zu belästigen oder sie gar zu töten. Deshalb gibt es Erwachsene in einer selbstgewählten Pionierrolle, die die Entwicklung und Produktion pflanzlicher Ersatzspeisen mittelbar oder unmittelbar vorantreiben. Das ist ein steiniger Weg, da die Produktvielfalt sehr zu wünschen übrig läßt und viele Ersatzprodukte einfach nicht schmecken. Wenn aber der Bedarf erst einmal entstanden ist, ein Markt dafür existiert, werden immer mehr, immer bessere Produkte auf pflanzlicher Basis entwickelt und verfügbar sein. Und es werden immer mehr Leute sich dazu entschließen, vermehrt oder auschließlich vegane Produkte zu essen.
Ich sehe für die Zukunft drei große Trends:
- Die verbesserte, artgerechte Haltung von Nutztieren. Jeder kann diese Entwicklung vorantreiben, indem er nur noch entsprechende Produkte kauft.
- Die Entwicklung verbesserter pflanzlicher Produkte. Verbessertes Rohmaterial (z.B. keine Pestizide, Wegzüchtung unerwünschter Pflanzenstoffe), verbesserte Rezepturen, neue Ideen, neuentdeckte oder neugezüchtete Ausgangspflanzen, Zusatz essentieller oder hilfreicher Stoffe.
- Die Entwicklung vollsynthetischer und gerade dadurch wirklich vollwertiger Nahrung. Das, was im Moment nicht mal in Ansätzen gelingt, wird in der Zukunft Routine sein. Wohlschmeckende, optisch ansprechende und vollgesunde synthetische Nahrung. Ohne einen einzigen Stoff, der da nicht hineingehört, aber mit allen notwendigen Stoffen in der richtigen Zusammensetzung, den notwendigen Ballaststoffen, der richtigen Verdauungszeit und Verdauungsreihenfolge usw. usf. Das ist aber noch ein langer Weg, da unsere Ernährungswissenschaft derzeit kaum eine Aussage über die optimale Ernährung des Menschen treffen kann, die nicht spätestens im nächsten Jahr wieder revidiert wird.
Bis dahin: haltet die Kinder aus diesem Glaubenskrieg heraus. Sie sind besonders anfällig für durch Mangelernährung verursachte Schäden, da sie noch in der Wachstumsphase sind. Laßt ihnen das Vergnügen, sich wie die anderen Kinder zu ernähren. Schaut lieber auf Dinge wie Zucker, bedenkliche Inhaltsstoffe, Pestizide usw. Überlaßt ihnen dann im Erwachsenenalter die Entscheidung, vegan zu leben oder nicht.
Wenn wir die vegane Entwicklung vorantreiben wollen, dann nicht auf dem Rücken unserer Kinder.
Liebe Grüße
Günter