Ja, Esther,
Bücher und Menschen haben sehr viel gemeinsam. Unter vielem anderen: Bücher sind verbrannt worden von der Generation unserer Großeltern. Menschen wenige Jahre später. Millionen.
Hab mich gefreut, an dieser Stelle Deinen Beitrag zu finden (#11). Dann habe ich leider Deinen Link angeklickt. (Was ich dazu zu sagen habe, trifft übrigens genau - in mehrfacher Weise - TRAUER, das Thema dieses Thread.)
Dieser "Seelenarzt" (so nennt er sich) vollzieht hier eine Hinrichtung eines von unzähligen Menschen geliebten Werks. Weltliteratur. Übersetzt in so ziemlich alle Sprachen. Die bei weitem höchste Auflage eines Buchs im 20. Jahrhundert, alle Nobelpreisträger und Krimiautoren eingeschlossen. (Sind die Menschen alle blöd? bis auf ein paar Psychos?) Eines Werks, daß, wie ich weiß, vielen Menschen in / aus ihrer TRAUER den Weg gezeigt hat.
"Dieses Buch ist gefährlich wie eine Droge. Wenn es eine spezielle Liste für 'jugendgefährdende Literatur' gäbe, für die nicht erwachsen Gewordenen bis 85, dann gebührte diesem charmanten Büchlein darauf der erste Platz." Durchwegs Schmähkritik, schon
sprachlich: "Raffinesse", "Verpackung", "gekonnt", "charmant", "blutleere Blässe, das Morbide" ... Wenn man einem Menschen so begegnet, ist der fertig. Wenn man einem TRAUERNDEN so begegnet, kann der suizidal werden.
Die Argumente durchwegs reduktionistisch: "Dies und jenes in dem Buch kommt ja NUR daher, daß . . ." (Früher Verlust des Vaters, des Bruders, fehlende Lösung der Mutterbindung usw.) Keinerlei Einsicht in das Wesen von Dichtung, die weit über das Individuelle hinausgeht, nicht ableitbar ist, "Zauber" hat (wie der Schreiber sieht; er "entzaubert" dann auf 1 Seite). "Herunterreden" kann man solches Vorgehen nennen. Das geht so: Der Prinz ist "klein", weil er "nicht erwachsen geworden" ist. Er ist ein "Prinz", weil er seiner Mutter, der "Königin . . . alles ersetzen muß, auch den Partner". Usw. Das Problem des Kleinen Prinzen sei, daß er "seinen Verstand, seine Männlichkeit, die vulkanische Kraft, Sexualität . . . unterdrücken muß". (So dieser Seelenarzt, der sich den Namen "Ero" gegeben hat . . .) Die Sexualität des Kleinen Prinzen. Dieser Schreiber schämt sich nicht!
Was hier systematisch zu zerstören versucht wird: Die vierte der fünf "Ebenen des Heilens" nach Klinghardt ("Traumkörper oder Intuitiver Körper). Die von entscheidender Bedeutung für TRAUERARBEIT ist. Sie "erfordert das Offensein für wirkliche Wunder." Die höchste Ebene, auf der Austausch zwischen Behandler und Patient möglich ist (Klinghardt). Nicht mehr bezeichnende Sprache sondern poetische (schaffende) Sprache. TRAUER gelingt nur auf dem Weg über Symbole (spontanes Gestalten, Ausdruck, Rituale, Nachvollziehen von archetypischen Bildern u. dgl.).
Der Autor ist uninformiert über die Person Saint-Exupery. Und er denkt völlig privatistisch: Der Affenbrotbaum im Buch wurde von Anfang an als Symbol für den wuchernden Faschismus in Europa verstanden. Die möglichen Ausbrüche des "Vulkans" versteht er als "unterdrückte Ejakulationen" - nun, 1943 gab es auf der Welt noch wesentlich erschütterndere "Ausbrüche". - St.-Ex. war alles andere als ein Muttersöhnchen in "Symbiose" mit seinem "Mutterersatz". Abgesehen von seiner Vorgeschichte als Pionier der Zivilluftfahrt hatte er erhebliche politische Bedeutung: Sein Erlebnisbericht "Flug nach Arras" ("Pilot de guerre"; Riesenauflage in den USA) half, die US-Amerikaner davon zu überzeugen, daß Frankreich mit all seinen Möglichkeiten gegen die Nazis gekämpft hatte; half die öffentliche Meinung für einen Kriegseintritt günstiger zu stimmen. Nach der Kapitulation Frankreichs hatte er nichts mehr zu tun und hievte sich mit dem Schreiben von "Der Kleinen Prinz" aus seiner Depression. DAS WAR TRAUERARBEIT! Ein Vorbild. Dann die Chance der Aufklärungsflüge von Korsika aus über Südfrankreich. (Dort war die Invasion der Allierten zunächst geplant. St.-Ex. hätte sich längst mir seiner "Rose" irgendwo "symbiotisch" zur Ruhe setzen können.) Als er die Altersgrenze für solche riskanten Flüge überschritten hatte, wandte er sich direkt - ein unglaublicher Akt für einen schlichten Oberst! - an den Oberbefehlshaber der Alliierten Mittelmeerstreitkräfte mit der Bitte, ihm weitere Flüge zu genehmigen. Das geschah. Der Flug, von dem er nicht mehr zurückkehrte, war - ohne daß St.-Ex. das wußte - der definitiv letzte genehmigte. Vor ein paar Jahren fand man (vermutlich) sein Flugzeug im Mittelmeer, nicht weit von der Küste.
"Man sieht nur mit dem Herzen gut" - vielleicht ist das wirklich der zentrale Satz des Werkes. Was daran macht viele Menschen so wütend, ja: haßerfüllt? Daß er so wahr ist, so einfach? Genauer: es ist schwierig, überhaupt "mit dem Herzen zu sehen". Kleine Kinder können's - es wird ihnen bald ausgetrieben. Mit großer Mühe kann man's später wieder lernen. Ein lebenswichtiger und erschütternder Prozeß - ich weiß es von mir und etlichen anderen. Eine Wiedergeburt, auch schmerzhaft. Unerträglich, daß andere es lernen, ich mich selber aber verweigere? Das übliche Totschlagewort ist "Romantik", ein paar Etagen tiefer "Gesülze". Notwehr? -- "Mit dem Herzen zu sehen", ist eine Voraussetzung für Liebe und für TRAUERARBEIT. Die ja eine Fortsetzung von Liebe ist.
Mit der Methode dieses Seelenarztes könnte man gut die Hälfte der abendländischen Tradition auf den Müll schmeißen. Von Sappho und Platon durch die Jahrhunderte über Pascal ("Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt"; Pascal war Mystiker und bedeutender Mathematiker) bis zur Gegenwart. Dann könnte man TRAUER gleich mit Valium "behandeln". Das nenne ich Barbarei.
Ich füge meiner Bücherliste (#5) "Der Kleine Prinz" hinzu. (Bisher war da nur "Die Rose des Kleinen Prinzen" drauf.) Die Geschichte zeigt, daß Schmähkritik an Weltliteratur - die Herzen berührt - einfach abgleitet.
Angesichts dieses Link war ich selber in Trauer. Und frag mich, immer noch . . .
Ich wünsche uns - ja: Neuentdeckung des "Zaubers". Bereitschaft, und verzaubern zu lassen. Unbeirrbar. Es gibt einen Zauber, "der uns beschützt / und der uns hilft, zu leben." (Hermann Hesse) Der Trauer lösen kann.
Ich grüße Dich von Herzen,
Windpferd