Tasawwuf - der Sufismus

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Durch persönliche Kontakte wurde ich vor ein paar Jahren mit dem tasawwuf (Farsi) / Sufismus (arabisch), unterschiedlichster Prágungen konfrontiert. Grundsätzlich kann man sagen, dass es sich beim tasawwuf um die "esoterische Wahrheit" des Islam handelt. Allerdings wird in der Regel davon ausgegangen, dass die sufische Lehre sich durch die Geschichte der Menschheit ziehe und in allen kulturellen Epochen in irgendeiner Form anwesend gewesen sei.

Historisch belegt ist, dass die sufistische Bewegung älter als der historische Islam. Es werden unter Anderem Verbindungungen zum Gnostizismus angenommen.

Die allermeisten Sufi sind Muslime, sunnitischer oder schiitischer Prägung, wobei es sufistische Strömungen in anderen Religionen auch gibt.

Aus der Sicht der überwiegenden Mehrheit, der muslimischen Sufi, ist ein Sufi immer ein Muslim. Der Begriff des Derwisch/ Darwisch stammt aus der persischen Tradition und ist im Prinzip inhaltlich mit dem Sufi identisch.

Wenn man sich die spirituellen Ziele des Sufismus betrachtet, fallen einem, meiner Ansicht nach, fernöstliche Religionen, vor allem der Buddhismus ein. Heute geht man von gegenseitigen Beeinflussungen aus, wobei historisch unklar ist, wie und in welche Richtungen diese verlaufen sind.

Der Weg der Sufis folgt vier Stufen, die auf die Prägung aus dem indischen Raum verweisen; bis heute ist jedoch offen, wie und in welche Richtung diese Beeinflussung historisch verlief:

1. Auslöschen der sinnlichen Wahrnehmung.
2. Aufgabe des Verhaftetseins an individuelle Eigenschaften.
3. Sterben des Ego.
4. Auflösung in das göttliche Prinzip.

Das oberste Ziel der Sufis ist, Gott so nahe zu kommen wie möglich und dabei die eigenen Wünsche zurückzulassen. Dabei wird Gott bzw. die Wahrheit als „der Geliebte“ erfahren. Der Kern des Sufismus ist demnach die innere Beziehung zwischen dem „Liebenden“ (Sufi) und dem „Geliebten“ (Gott). Durch die Liebe wird der Sufi zu Gott geführt, wobei der Suchende danach strebt, die Wahrheit schon in diesem Leben zu erfahren und nicht erst auf das Jenseits zu warten.
Sufismus ? Wikipedia

Sehr viele Sufis, wenn sie nicht dogmatisch einer speziellen Richtung der Scharia (islamisches Gesetz) angehören, gehen davon aus, dass der wesentliche Kern der "Wahrheit" in allen Religionen zu finden ist
Hier findet sich eine relativ liberale Einstellung, die den Sufismus, bzw. den "Weg der Derwische"heute für viele westlich geprägte Menschen attraktiv macht.

Sufis, bzw. Derwische, sind in jahrhundertealten Tariquas (Schulen/ Orden) organisiert. Sie folgen, um die oben erwähnten Ziele zu erreichen, unterschiedlichen tradierten Ritualen. Das wesentliche Ritual ist der Dhikr - sprich sikr, dem unterschiedliche Rituale zugrunde liegen.
Eine diese ritualisierten Techniken, die beim Dhikr zur Anwendung kommen, ist der "Tanz", bei dem es darum geht, durch tanzartige Bewegungen ekstatische Zustände zu erreichen, in denen dann wiederum die "Wahrheit" und die Auflösung der Trennung von Gott und Welt erfahren wird. Der Malewi - Orden, das sind die berühmten "tanzenden Derwische" dürfte heute einer der bekanntesten sein. Kaum eine Stadt in Mitteleuropa, in der eine Gruppe, zum Beispiel aus Konya, noch nicht aufgetreten ist. Der ritualisierte Tanz wird als Sema bezeichnet.

Weitere ekstatische Techniken sind der Gesang, wobei es hauptsächlich um das meditative Wiederholen des islamischen Glaubensbekenntnisses geht, die stille Meditation und - allerdings nur beim Rifai/ Rufai Orden, das spektakuläre Durchstechen von Körperteilen.

Die ordensartigen Zusammenschlüsse folgen in der Regel einem geistigen "Führer", dem Sheikh (spr. Schey).

Neben den erwähnten Orden sind die ältesten und heute noch bekanntesten der Quadiri - Orden, die Naqsibandi und die Bekhtashi.

Informationen findet man unter anderem hier:

Sufismus ? Wikipedia

Derwischorden - MSN Encarta

Tariqa ? Wikipedia

Derwisch ? Wikipedia

Sufismus.de

Herzliche Grüße von
Leòn
 
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Zitat:
Sehr viele Sufis, wenn sie nicht dogmatisch einer speziellen Richtung der Scharia (islamisches Gesetz) angehören, gehen davon aus, dass der wesentliche Kern der "Wahrheit" in allen Religionen zu finden ist
Hier findet sich eine relativ liberale Einstellung, die den Sufismus, bzw. den "Weg der Derwische" heute für viele westlich geprägte Menschen attraktiv macht.

Und natürlich verwundert es auch nicht, dass diese Orden, auch wegen der esoterischen Ausrichtung, autokratischen Herrschern des Mittelalters, den Herrschern des Osmanischen Reiches und heutigen Fundamentalisten, äußerst suspekt waren und sind. So wurden die meisten Gründer dieser Orden verfolgt, wie z.B. Rumi symptome.ch/threads/religioese-gedichte.11472/ . In fundamentalistischen bzw. islamistischen Kreisen werden diese Orden nach wie vor misstrauisch "beäugt", bzw. werden sie in autoritären Staatssystemen beobachtet und verfolgt, bzw. sind sie verboten.Qantara.de - Islam weichgespült?, https://web49.srv14.ffm.w-united.de/index2.php?option=com_content&do_pdf=1&id=102

de.wikipedia.org/wiki/Dschalal_ad-Din_ar-Rumi;
Auch nicht verwunderlich erscheint es meiner Ansicht nach, dass die meisten europäischen FreimaureInnen sich unter anderem auch in der Tradition des Sufismus sehen: https://www.symptome.ch/threads/freimaurerei-in-geschichte-und-gegenwart.10095/ .

Die Sufi - bzw. Derwisch - Orden sind ursprünglich rein maskulin orientiert, allerdings gibt es schon lange auch weibliche Ausrichtungen D_sufi_d.

Einen besonderen Orden bilden in dieser Hinsicht die Bekhtashi, die es noch heute in der Türkei, in Albanien, dem ehemaligen Jugoslawien und seit einiger Zeit, durch Migration, auch in Mitteleuropa, zum Beispiel in Deutschland gibt. Es gibt hier sehr enge Parallelen zu den Aleviten https://www.symptome.ch/threads/die-religionen.8764/ (Schia) Schia - Wikipedia .
Bei den religiösen Bräuchen der Bektashi gibt es die strikte Trennung zwischen Frau/ Mann und Familie überhaupt nicht und bei den Dhikren (Cem genannt, wie bei den Aleviten) sind Frauen und Kinder gleichermaßen einbezogen.

Sufi-Zentrum Braunschweig - Hajji Bektash Veli

Hafes - Wikipedia

Yunus Emre - Wikipedia

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Leòn
 
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Hallo Uta,

danke für Deine nette Rückmeldung.

In der Zeit, als ich in der Gemeinwesenarbeit tätig war, war ich mal "Gastgeber" für einen großen Dhikr von Quadiri - Derwischen aus Ex - Jugoslawien, die aus ganz Norddeutschland bei uns szusammen kamen. Sechzig Derwische mit ihren (zum Teil recht großen) Familien. Da war etwas los..... ;).

Die Zusammenkunft begann gegen 16.oo Uhr. Sie fing mit, auf Streichinstrumenten vorgetragener klassischer Musik. Der reine Dhikre dauerte dann knappe vier Stunden. Bei den Quadiris handelt es sich um sogenannte "heulende Derwische" www.vigb.de/predavanja/?page=4 , die so wegen ihrer exaltierten "Gesänge", bei denen es sich um kurze, rhytmisch hervorgebrachte Koranzitate handelt, genannt werden. Bei der eigentlichen Dhikr - Zeremonie ging es also darum, dass sich die Derwische, in der Mitte der Gemeinde befindlich und von ihrem Sheij angeleitet, mit schnell hervorgebrachten Ausrufen und rhytmischen Bewegungen in Trance versetzten. Die Derwische saßen dazu mit ihrem Sheij im Kreis und jeweils einer "geriet"während der Zeremonie in die Mitte. Das Tempo steigerte sich in den Stunden immens.
Der Shej hielt zwischendurch eine erbauliche Rede, sozusagen eine Predigt.
Begleitet war das Ganze mit einfacher Musik.
Interessant war für mich auch der rituelle Aufbau der Zeremonie. Am Anfang wurden die "Amter" der einzelnen Teilnehmer des Rituals vorgestellt, die mich tatsächlich an die rituellen "Amter"in der Freimaurerei erinnerten. ;)

Nach dem eigentlichen Dhikr folgte das gemeinsame Essen aller, mit den Familien. Während für mich das der eigentliche Höhepunkt war :eek:), sahen das die Derwische wohl etwas anders ;).

Meine strenggläubigen sunnitischen Bekannten sahen diese Veranstaltung mit größerer Skepsis. Mir wurde schnell die Sonderstellung deutlich, die der Sufismus in der islamischen Welt inne hat und das Misstrauen, mit dem man ihren Angehörigen, wenigstens zum Teil, begegnet.

Herzliche Grüße von
Leòn

Herzliche Grüße von
Leòn
 
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Danke Leòn,:)

das ist auch für mich ein interessantes Thema, obwohl ich nur sehr wenig darüber weiß.
Die Tanz der Derwische ist mir ein Begriff und einige dieser Trance-Rituale.
Ich habe vor einigen Jahren ein Buch von Irina Tweedie gelesen: Der Weg durchs Feuer. Es war ein Tagebuch, zu ihrem ganz eigenen spirituellen Weg. Ihr Lehrer war ein Sufimeister.
Das Buch war interessant, aber auch heftig was die Erlebnisse dieser Frau angingen. Durch das Buch bekam man etwas Einblick in die Tradition dieser Religion.

Grüsse von Juliette
 
Meine strenggläubigen sunnitischen Bekannten sahen diese Veranstaltung mit größerer Skepsis. Mir wurde schnell die Sonderstellung deutlich, die der Sufismus in der islamischen Welt inne hat und das Misstrauen, mit dem man ihren Angehörigen, wenigstens zum Teil, begegnet.

Das kann ich von dem, was ich hier höre, bestätigen. Mir wurde gesagt, daß der Sufismus eigentlich eine Art Sekte sei und man sehr aufpassen müsse, weil die den Koran in einer sehr eigenen Art auslegten...

Gruss,
Uta
 
Hallo Juliette, hallo Uta,

danke für Euer Interesse!
Das kann ich von dem, was ich hier höre, bestätigen. Mir wurde gesagt, daß der Sufismus eigentlich eine Art Sekte sei und man sehr aufpassen müsse, weil die den Koran in einer sehr eigenen Art auslegten...
Ein sunnitischer Bekannter von mir brachte das "Heulen der Derwische" sogar mit Satanismus in Verbindung, da Allahs Wort durch deren Ritual verzerrt ausgesprochen werde und gegebenenfalls dadurch unreine Geister (Dhinnen) angerufen werden könnten.

Ein weiterer, gewichtiger Grund, weshalb sunnitische Muslime häufig den Sufismus ablehnen bzw. kritisch betrachten, ist so etwas wie die "Heiligenverehrung" der sufistischen Orden. Der Koran lehnt dies ab: "Nichts ist heilig, außer Allah!". Im Sufismus, bzw. im Derwischtum dagegen wird die Verehrung von lebenden wie verstorbenen Sheijs praktiziert.

Ein Beispiel dafür ist die Verehrung der Marabouten www.zis.uni-mainz.de/Dateien/Reisefuehrer_
Als ich vor ein paar Jahren mal in Marokko war, sprach ich den Reiseführer gezielt auf die dortigen Sufi an. Obwohl sie in der Gesellschaft vielerorts präsent sind, gab der Reiseführer an, darüber gar nichts zu wissen ;)!

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Ein berühmter Sufist war
Er hat Gedichte geschrieben, die ins Englische übersetzt wurden. Eine deutsche Übersetzung habe ich leider nicht gefunden.


THE SPIRIT OF THE SAINTS

There is a Water that flows down from Heaven
To cleanse the world of sin by grace Divine.
At last, its whole stock spent, its virtue gone.
Dark with pollution not its own, it speeds
Back to the Fountain of all purities;
Whence, freshly bathed, earthward it sweeps again,
Trailing a robe of glory bright and pure.

This Water is the Spirit of the Saints,
Which ever sheds, until itself is beggared,
God's balm on the sick soul; and then returns
To Him who made the purest light of Heaven.

R. A. Nicholson

'Persian Poems', an Anthology of verse translations
edited by A.J.Arberry, Everyman's Library, 1972

www.armory.com/~thrace/sufi/poems.html#THESPIRITOFTHESAINTS

Dschalal ad-Din Muhammad Rumi, (persisch مولانا جلال الدین محمد رومی‎ - Moulānā Ǧalāl al-Dīn Muhammad Rūmī; eigentlich Ǧalāl al-Dīn Muhammad Balkhī; * 30. September 1207 in Balkh im damaligen Persien und heute in Afghanistan; † 17. Dezember 1273 in Konya, heute in der Türkei) war einer der bekanntesten persischen und islamischen Mystiker (siehe auch Sufismus) und gilt als Gründer der Mevlevi-Tariqa (Mevlevi-Derwischorden). Von seinen Derwischen und auch späteren Anhängern wird er Moulana (persisch/arabisch „unser Herr/Meister“ von arabisch: مولى‎ maulan, „Herr“) oder (in türkischer Aussprache) Mevlana genannt. Zu Zeiten Rumis wurde Anatolien von den Rum-Seldschuken regiert, daher der Beiname Rumi (= Oströmer, Byzantiner).
RUMI - BIOGRAFIE

Gruss,
Uta
 
Das Thema finde ich auch sehr interessant. Die obersten Ziele der Sufi finde ich gar nicht suspekt, aber bei Ritualen, die Menschen in veränderte Zustände versetzen wird mir immer ein wenig mulmig. :eek:

Ich muss mich noch besser einlesen. Mich interessieren vor allem die Verhaltensregeln im Umgang mit anderen Menschen, ganz besonders mit Anders-Gläubigen. Scheinbar ist aber die Geheimhaltung den Sufi so wichtig, dass es schwierig ist etwas über den innersten Glaubenskern zu erfahren.

Relinfo: Sufismus

Gruss
Kathy
 
Hallo Kathy,

ich glaube, das einzige wirkliche Geheimnis des Sufismus ist das individuelle Erlebnis selbst. Und das ist, ähnlich wie in der Freimaurerei, nur deshalb "geheim", weil es sich nicht vermitteln lässt, da es eben individuell ist.;)

Alles andere kann man in vielen Büchern nachlesen, zum Beispiel bei Annemarie Schimmel Annemarie Schimmel ? Wikipedia .
Aber auch im Internet: Sufismus.de
https://sufiportal.de/; https://www.sufismus.ch/; MTO Shahmaghsoudi ® Sufismus Online

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Hallo Uta,

danke für das schöne Gedicht von Rumi und die kleine Information dazu.

Rumi gilt als Begründer des Mewlewi / Mewlana - Ordens. Also der "tanzenden Derwische":

YouTube - tanzende Derwische

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Sufi Medizin

Der Grundgedanke der Sufi - Medizin ist, dass alle Heilung von Gott/ Allah ausgehe. Der Heiler ist also nur der Mittler.

In der von Sufi praktizierten Heilkunde findet sich ein großer Teil der bekannten naturheilkundlichen Ansätze wieder.

Von dem leitenden Shej des oben beschriebenen Dhikr weiß ich, dass er eine Behandlungsform praktiziert, die man als "Magie" - oder eben auch psychosomatisch wirksame Technik bezeichnen könnte: er schreibt in einer bestimmten Zeremonie, entweder Suren oder Wünsche, in arabischer Schrift auf ein Blatt Papier und gibt diese den PatientInnen mit.
Auch der Dhikr an sich gilt als ein Instrument der Heilung.

Ein wesentlicher Bestandteil der sufistischen Heiltraditionen sind musiktherapeutische Ansätze: https://www.diemaske.at/pdf/DIEMASKE_juni2007_tucek_ethnomusiktherapie.pdf

und Kräutermedizin, bei der auch wieder bestimmte Rituale und "Besprechungen" eine Rolle spielen: Medizin im kulturellen Vergleich ... - Google Book Search

Herzliche Grüße von
Leòn
 
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Hallo Kathy,

dazu
Mich interessieren vor allem die Verhaltensregeln im Umgang mit anderen Menschen, ganz besonders mit Anders-Gläubigen.
ist mir noch etwas eingefallen. Die Derwische, die ich kennengelernt habe, sie leben nach den Regeln der Quadiri und zum Teil nach denen der Rufai, haben ein ausgesprochen tolerantes Verhalten gegenüber Andersgläubigen an den Tag gelegt, sogar verständnisvoll von Aleviten gesprochen, die Sunniten respektiert und Christen sowieso.
Viele Sufi - Gruppen sind den Strenggläubigen auch deshalb suspekt, weil sie zum Teil christliche Elemente in ihre Rituale und in ihr Alltagsleben übernommen haben. So feiern zum Beispiel manche das christliche Georgsfest https://www.symptome.ch/threads/legenda-aurea-heiligenlegenden.37922/ .

Herzliche Grüße von
Leòn
 
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