AW: Schwindel-"Attacken" durch HWS-Fehlstellung? Jetzt Diagnose V
Hallo miteinander,
ich habe in dem Beitrag jetzt mal nur quer gelesen, aber ich möchte mich trotzdem kurz beteiligen. Schwindel ist ja ein sehr, sehr komplexes Thema. Was mich etwas stutzig gemacht hat war, dass in den Beiträgen auch ein Einfluss von Nahrungsmitteln erwähnt wurde, die ich in anderem Zusammenhang als Triggerfaktoren kenne.
Klar neigt man leicht dazu, Dinge entsprechend seiner eigenen Erfahrung und seines Vorwissens zu interpretieren, und das, was ich schreibe, muss natürlich nicht auf Euch passen. Aber vielleicht kann es für den ein oder anderen ja doch etwas sein, was er abklären lassen möchte, und vielleicht findet sich dabei ja ein Baustein, der hilft, wieder mehr Lebensqualität zu gewinnen. Ich selber bin Patientin. Ich versuche, die Informationen aus der Erinnerung heraus wiederzugeben, es kann also sein, dass sich Fehler einschleichen - im Zweifel bitte selber noch einmal nachlesen.
Erst einmal sorry, dass ich recht weit ausholen werde. Ich will mit meinem Beitrag zuerst auf mögliche Zusammenhänge zu Nahrungsmitteln eingehen (Stichwort Mastzellaktivierungssyndrom), dann auf neurovegetative Regulationsstörungen, dann auf das Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS) und schliesslich noch kurz am Rande auf Instabilitäten der oberen Halswirbelsäule. Warum so viel, warum so kompliziert? Weil es Hinweise darauf gibt, dass bei EDS diese Dinge gehäuft auftreten können, weil es einen Bausatz an Therapieansätzen eröffnet, und weil sich in diesen Bereichen zur Zeit einiges an medizinischer Forschung tut, auch an renommierten medizinischen Universitätskliniken.
Noch relativ neu in der medizinischen Forschung ist das Thema "Mastzellaktivierungssyndrom", kurz MCAS. Mastzellen gehören zum Immunsystem des Körpers; sie enthalten verschiedene Botenstoffe, wie unter anderem Histamin, Tryptase, Heparin. Ähnlich wie bei einer systemischen Mastozytose kann es bei einem MCAS durch verschiedene Triggerfaktoren zu einer Ausschüttung von Mastzell-Botenstoffen kommen, die überproportional ist und Symptome auslösen kann. Triggerfaktoren können z.B. verschiedene Nahrungsmittel sein (Alkohol, Schokolade, Kaffee etc.), chemische Duftstoffe, körperliche Anstrengung, Reibung, psychischer Stress, Temperaturunterschiede. Symptome können z.B. Schwindel, Übelkeit, Benommenheit, Magen-Darm-Probleme (Luft im Bauch, Krämpfe, Durchfälle, Verstopfungen), Hitzeflushs, Schwäche, Jucken und Hautrötungen, Atembeschwerden, neurovegetative Regulationsstörungen sein.
Die Diagnostik richtet sich zur Zeit noch nach den Symptomen und einem Test auf ein vermehrtes Vorliegen von Mastzell-Botenstoffen im Blut. Eine Untersuchungsmöglichkeit, die von der Uniklinik Bonn publiziert wurde, ist eine Blutgerinnungsuntersuchung vor und nach Anstauen des venösen Blutflusses des Armes. Bei MCAS scheint es dabei zu einer überproportionalen Erhöhung des Heparins zu kommen. Weitere Hintergründe der Erkrankung, wie eventuelle genetische Komponenten, werden noch erforscht.
Eine Behandlung mit Antihistaminika kann bei MCAS hilfreich sein; da allerdings oft eine Überempfindlichkeit auf Zusatzstoffe der Medikamente besteht, müssen manchmal verschiedene Medikamente ausprobiert werden.
Z.B. an den Unikliniken Aachen und Bonn gibt es Ansprechpartner und z.T. auch Forschung zum MCAS.
Neurovegetative Regulationsstörungen bedeuten, dass der Körper Prozesse, die normalerweise automatisch, unbewusst, reguliert werden, fehlerhaft steuert. Dazu gehören z.B. Puls, Blutdruck, Eng-/Weitstellung der Gefäße, Schwitzen, die Größe der Pupillen, die Innervation innerer Organe etc. Auch hier ist vieles noch nicht erforscht. Beispiele sind z.B. orthostatische Intoleranz, z.B. ein Absinken des Blutdrucks in aufrechter Position (mit Folge Schwindel, Übelkeit etc.) oder ein posturales orthostatisches Tachykardie-Syndrom (kurz PoTS), bei dem der Puls in aufrechter Position 30-40 bpm ansteigt. Orthostatische Intoleranz geht oft mit Erschöpfung und Müdigkeit einher.
Die Diagnostik erfolgt in speziellen neurologischen Ambulanzen, die auf das vegetative Nervensystem spezialisiert sind, meines Wissens nach z.B. an den Unikliniken Aachen, Freiburg und Dresden. Dysautonomie oder neurovegetative Diagnostik wären Stichworte, nach denen man suchen kann. Es gibt Kipptischuntersuchungen, bei denen der Kreislauf in aufrechter Position beurteilt wird, Tests der Schweissausschüttung, eventuell auch Bluttests. Ursachen für Störungen können unterschiedlich sein, MCAS, Autoimmunprozesse, Störungen im Verlauf des vegetativen Nervensystems durch neurologische Prozesse (bei Nervenverletzungen, Diabetes etc.), EDS. Mithilfe der Untersuchungen kann eine Beteiligung des vegetativen Nervensystems erkannt und etwas genauer lokalisiert werden.
Therapieansätze können konservativ sein (Stützstrümpfe, um die Rückfuhr des Blutes aus den Beinen zu erleichtern, Salzzufuhr bei niedrigem Blutdruck, viel trinken, bestimmte Körperpositionen zum Abfangen der Symptome, Aufbau der Beinmuskulatur) oder medikamentös (Medikamente, die z.B. blutdruckregulierend wirken).
Das Ehlers-Danlos Syndrom ist eine Gruppe von erblich bedingten Störungen des Kollagen-Aufbaus, eines Teils des Bindegewebes. Je nach Art und Ausprägung können verschiedene Körperbereiche vermehrt betroffen sein; so gibt es den vaskulären Typ, den klassischen Typ (vermehrt dehnbare Haut), den hypermobilen Typ. Vor allem beim hypermobilen Typ (HEDS) gibt es Hinweise darauf, dass neurovegetative Regulationsstörungen, MCAS, HWS-Instabilitäten vermehrt auftreten können. Die Genetik hinter dem hypermobilen Typ, ebenso wie die Zusammenhänge zwischen MCAS und neurovegetativen Regulationsstörugen und HEDS, sind größtenteils noch unbekannt.
Die diagnostischen Kriterien für HEDS werden aktuell überarbeitet. Merkmale sind u.a. eine Hypermobilität der Gelenke, wiederholte Subluxationen/Luxationen, Gelenkschmerzen verschiedener Gelenke oder Rückenschmerzen über mehrere Monate, ggf. Neigung zu atrophischer Narbenbildung (zigarettenpapierartig) oder Schwangerschaftsstreifen, erhöhte Gewebebrüchigkeit (Hernien etc.), ein inkompletter marfanoider Habitus (z.B. lange Arme/Beine/Finger/Zehen, dünne Handgelenke, hoher Gaumen) und eine entsprechende Familiengeschichte, wobei nur ein Teil der Kriterien erfüllt sein muss. Außerdem besteht häufig eine Neigung zu blauen Flecken, verfrühter Wirbelsäulenverschleiss, Osteopenie.
Das Management der Erkrankung umfasst u.a. Schmerztherapie, eine Versorgung mit Orthesen und Hilfsmitteln, um subluxierte Gelenke zu führen, und Krankengymnastik. Bei EDS kann in Einzelfallentscheidung bei der Krankenkasse eine Langfristverordnung von Physiotherapie beantragt werden. Regelmäßige Physiotherapie ist wichtig, um den mangelnden Halt der Gelenke zu kompensieren.
Instabilitäten der oberen Halswirbelsäule, im Bereich C0-C2 (also zwischen Kopf und zweitem Halswirbel) sind bei EDS-Patienten vermutlich häufiger als in der Normalbevölkerung. Dieser Bereich ist biomechanisch sehr komplex, und gerade hier ist eine Führung der Gelenke durch stabile Gelenkkapseln und Bänder besonders wichtig, was bei EDS leider weniger gegeben ist.
Für die Bildgebung dieser Instabilitäten werden Upright-MRTs und Funktionsaufnahmen (z.B. CT in Rotation und Inklination des Kopfes) empfohlen. Wichtig dabei ist die Beurteilung des clivioaxialen Winkels (auch Clivus-Kanal-Winkel), des Grabb-Oakes-Measurements und des Harris Measurements. Leider werden diese Messungen nur selten gemacht, obwohl sie in aktuellen Fachbüchern aufgeführt werden. Hoffentlich gibt es Anfang kommenden Jahres entsprechende Publikationen dazu.
Wichtig zu wissen ist dabei, dass ein abgeflachter clivioaxialer Winkel (der Winkel zwischen Schädelbasis und Rückenmarkskanal) dazu führen kann, dass das obere Rückenmark/der untere Hirnstamm etwas abknickt. Auch diese Distorsionen/Dehnungsverletzungen können zu Schäden und Symptomen führen, nicht nur Einengungen. Dazu gibt es histologische Studien, biochemische und biomechanische Überlegungen - aber auch das ist in der Praxis leider noch wenig bekannt, die Studien werden erst jetzt langsam mehr zitiert. In diesem Bereich verlaufen neben der Bahnen im Rückenmark, die motorisch und sensibel den Körper innervieren unter anderem vegetative Zentren, Anteile des Trigeminus und Bahnen für die Propriozeption, die Wahrnehmung der Position des Körpers und der Stellung der Gelenke zueinander.
Therapieansätze bei Instabilitäten in diesem Bereich sind Muskelaufbau, Versorgung mit Halskrause/fester Orthese (am besten in Kombination mit Muskeltraining), Vermeiden belastender Bewegungen, gute Lagerung der HWS auch im Schlaf. Stabilisierungs-Operationen sind die allerletzte Option.
Jetzt habe ich viel geschrieben; vielleicht hilft ein Baustein davon ja dem ein oder anderen. Falls Links zu Publikationen/Präsentationen benötigt werden, bitte kurz Bescheid geben, dann kann ich mich auf die Suche danach machen. Viele gute Informationen gibt es auch auf
Karina's instabile Halswirbelsäule und Ehlers-Danlos Syndrom – Karina's Cervical Spine Instability and Ehlers-Danlos Syndrome.
Viele Grüße und alles Gute,
odyssina