Die vertauschten Töchter

Windpferd

Die vertauschten Töchter
Das Haar der einjährigen Manon beginnt, sich zu kräuseln, ihr Teint färbt sich dunkler. Sophie, die Mutter, 18, Südfranzösin, denkt stolz an die maurischen Ursprünge ihres Vaters. Pierre, Ihr Freund, ihre einzige Jugendliebe, beschuldigt sie der Untreue. In dem Dörfchen beginnt das Getuschel: „. . . vielleicht vom Briefträger?“ Nach zwei Jahren zieht Pierre aus. Vier Jahre später setzt er einen Vaterschaftstest durch; vielleicht auch, um 300 € Alimente zu sparen. Der Test zieht sich Monate hin; es wird eine zweite Blutprobe gebraucht. „Sie haben seltenes Blut“, die Erklärung des Labors.

Nach weiteren vier Monaten die Einladung zu einer Notarin in der nahen Großstadt, wie es das Landesgesetz vorschreibt: „Madame: Pierre ist nicht der leibliche Vater – und Sie sind nicht die Mutter.“ Zweifelsfrei nach zwei Tests. Ja, es werde bei einem „Vaterschaftstest“ auch das Erbgut der Mutter mit abgeglichen, um Manipulation auszuschließen.

Das könnte die Exposition einer klassischen Tragödie sein. (Nur dass es genetische Tests noch nicht gab, zu Sophokles’ oder Shakespeares Zeiten.) Aber erst mal geht das Leben weiter.

Sophie erinnert sich, dass sie am vierten Tag nach der Entbindung erstaunt war über die vielen Haare auf Manons Kopf. „Ach, das Licht lässt die Haare wachsen“, sagte die Schwester. (Manon hatte wegen Gelbsucht Lichttherapie bekommen.) Zwei Wochen nach Entlassung war Manon sieben Zentimeter länger als, lt. Klinikaufzeichnungen, nach der Geburt. „Ungenaue Messungen“, sagte die Kinderärztin. Schon sehr ungenau.

„Warum habe ich meine Tochter nicht wiedererkannt!“ Sophies Frage für die nächsten 20 Jahre. Mindestens.

Es ließ sich ermitteln, dass die Kinderkrankenschwester, eine Alkoholikerin, die Armbändchen mit den Namen, die sich gelöst hatten, an den falschen Armen wieder befestigt hatte. Montags, nach einem durchzechten Wochenende. So wurde an diesem Tag aus Manon, Sophies leiblicher Tochter, Mathilde, und aus Mathilde, der leiblichen Tochter einer anderen Frau, wurde Manon, Sophies geliebte Tochter. Wer soll das verstehen.

Zwei Jahre später lädt die Gendarmerie Sophie und Pierre (der inzwischen in einer anderen Beziehung lebt) ein: Pierres Verdacht auf Untreue war unbegründet, Der Polizist zeigt Pierre ein Photo seines Kindes mit Sophie (ursprünglich Manon, jetzt Mathilde): Sophies Augen, seine, des leiblichen Vaters, volle Lippen.

Manons wiederholte Frage an Sophie: „Du bleibst aber meine Mutter?“ Die Antwort ist immer „Ja.“

Sophie ruft Mathildes (ehemals Manons) derzeitige Mutter an. „Ich bin die leibliche Mutter ihrer Tochter.“ Merkwürdig, auch die Sprache. Die Frau lädt zu sich ein, 35 km entfernt. Hübsches Haus; „Meine Tochter hat es gut getroffen“, denkt Sophie. (Was für ein Satz. Für eine Mutter.) Noch im Flur fallen sich alle in die Arme. Euphorie des Augenblicks, taumelnde Verlegenheit. So Sophies spätere Beschreibung. Die Ähnlichkeit der beiden Mädchen. (So nahe waren beide einander schon einmal, am vierten Lebenstag, Kopf an Fuß in einem Brutkasten. Auch das hatte die Polizei ermittelt.) Die Beiden schlafen im selben Bett wie vor Zeiten.

Dann setzt sich die Gegenwart durch gegen die Genetik. Manon klettert auf Sophies Schoß, Mathilde auf den ihrer Mutter. Dann gegenseitige Besuche der Mädchen. Aber … Aber Mathilde ist zum Frühstück Tee gewohnt; bei Manon gibt es Kakao. Manon reitet leidenschaftlich gern, Mathilde fürchtet sich vor Pferden. Bei Manon dürfen Kinder Krimiserien schauen, bei Mathilde keinesfalls. Die Beiden umarmen einander bei jeder Gelegenheit, als stünde dauernd ein Abschied bevor. Und der kommt – langsam aber bestimmt. Die Familien entfremden sich; das Interesse der Kinder an der jeweils anderen Familie nimmt ab. Manon weiß nicht mehr, was sie mit Mathildes Mutter reden soll. Irgendwann bleiben die Kontakte aus, ganz ohne Streit.

(Über Mathilde und ihre Familie ist weiter nichts zu erfahren. Sie verweigern Interviews. Mit Sophie und Manon hat die Autorin viele Stunden gesprochen. Sophies detailreiches und introspektives Erinnern - reine Freude.)

Manon gestaltet photographisch. Selbstporträts. Eines, mit 19, auf dem sie sich selber anschaut. Eine doppelte Manon. „Ich habe eben zwei verschiedene Identitäten.“ Was für eine Weisheit. Ihre Herkunft quält sie nicht mehr.

Was geschieht durch Trennung von den Töchtern - durch diese Art von Trennung - mit den Müttern? Mit dem grundlegenden Bonding zwischen Baby und Mutter? Mit deren Oxytocinspiegel? Mit den seelischen und geistigen Aspekten, für die wir noch keine Namen haben? Sophie lebt getrennt auch vom Vater ihrer späteren Kinder. (Sie führt diesen Umstand auf die Trennung von ihrer ersten Tochter zurück.) Sie schläft nicht mehr gut. Sie erwartet überall das Schlimmste. Sie kann nicht mehr arbeiten. Vergeblich versucht sie, die Vergangenheit zu klären. Da ist nichts zu klären: es war ein Zufall. Sie schreibt sich die Schuld daran zu, dass sie zu ihrer leiblichen Tochter, Mathilde, keine gutes Verhältnis hatte aufbauen können. Und immer wieder: „Ich habe mein eigenes Baby nicht erkannt!“

Gegenwärtig erhofft sie sich (gut 40 Jahre alt) – ja: Erlösung. Weniger nicht. Durch Juristen. Sophie und Mathildes Eltern haben das Krankenhaus auf jeweils 6 Millionen € Entschädigung verklagt. Das Urteil steht noch aus. Was für ein Ansinnen an ein irdisches Gericht. „Experten“ schätzen den Wert zweier vertauschter Leben. Wenn das Krankenhaus seine Schuld anerkennen würde oder müsste, so wäre Sophie frei von Schuld. Denkt sie. Kann das wahr sein?

(Quelle: DIE ZEIT Nr. 9, 20. Februar 2014, S. 15 – 17; ein ausgezeichnet recherchierter Artikel von Annika Joeres, mitreißend geschrieben. Hier sehr stark gekürzt und sehr frei nacherzählt.)
Der Sinn der Tragödie, so lehrte Aristoteles, sei es, „die Seele zu reinigen durch Schrecken und durch Mitgefühl.“ Das ist das Eine.

Das Andere: Ist es menschenmöglich, über Tragödien – auch über die eigenen – hinauszugehen? Und, wenn ja: wie?

Zuletzt: welche Wahrheit bleibt jenseits der Bewältigungs-Rezepte?

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Henryk Gorecki
Symphonie Nr. 3 op. 36
("Symphonie der Klagelieder")
2. Satz: Lento e Largo - Tranquillissimo



Dawn Upshawn, Sopran
London Sinfonietta
Leitung: David Zinman​


Dem Satz liegt ein polnischer Dreizeiler zugrunde, eingeritzt in die Wand einer Zelle des Folterkellers der Gestapo in Zakopane (Tatra, Südpolen), datiert November 1944. Vom Leben der Schreiberin, einer 18-jährigen Polin, ist weiter nichts bekannt. Alle drei Texte des Werks gelten der Auseinandersetzung einer Frau mit dem Tod. Der Text des 2. Satzes:

No, Mother, do not weep.
Most chaste Queen of Heaven.
Support me always.

Das Stück ist für großes Orchester gesetzt; es dominieren aber durchwegs die Streicher. Die Bläser geben zumeist nur Ruhepunkte, die dem Klang dunklen Glanz verleihen.

Henryk Gorecki (betont auf der 1. Silbe; ck gespr. zk) wurde 1933 in Czernica, Schlesien, geboren. In seiner Jugend komponierte er seriell, später zunehmend tonal mit Clustertechnik, zunächst durch Bartok, dann durch Webern beeinflußt. Zunehmend orientiert an polnischer Volks- und Kirchenmusik. Er war ein frommer Katholik. (Legte seine Professur nieder aus Protest dagegen, daß die polnische Regierung den polnischen Papst Johannes Paul VI. nicht empfangen wollte.) Mit der 3. Symphonie (1976) schaffte er es sogar auf irgendwelche sonst der Pop-Musik vorbehaltenen "Charts" (schreibt Wikipedia) - was immer das sein mochte. Er starb 2010 in Katowice.

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Das Andere: Ist es menschenmöglich, über Tragödien – auch über die eigenen – hinauszugehen? Und, wenn ja: wie?

Die Antwort gibt die Geschichte selbst. Jeder Beteiligte ist offenbar unterschiedlich mit diesem Schicksal umgegangen.
Frage: Wo ist die Liebe geblieben? Sind Gene stärker als Liebe?

Könnte diese Geschichte etwas zur Antwort beitragen?

Das Geheimnis des Friedens
"Lass mich dir das Geheimnis meines Friedens erzählen. Jeden Abend, bevor ich zu Bett gehe, knie ich nieder und danke Gott von ganzem Herzen für alle Segnungen des Tages. Und dann übergebe ich Gott von Herzen alles, was mir lieb und teuer ist - meine Familie, meine Freunde, mein Haus, mein Auto, meinen Besitz, meinen materiellen Reichtum. Und vor meinem inneren Auge sehe ich meine Familie und meine Liebsten in den Armen Gottes ruhen.
Und nachdem ich mit meinem Gebet fertig bin, gehe ich als armer Mann schlafen.
Wenn ich am Morgen aufwache, schaue ich mir meine Umgebung an, um den frischen, neuen Tag zu begrüßen, und sehe, dass Gottes Gnade mich noch immer umgibt. Und von Dankbarkeit erfüllt, knie ich mich hin und danke Gott aus tiefstem Herzen, dass Er mich einen weiteren Tag lang mit diesen unvergleichlichen Gaben gesegnet hat.
Ich erkenne, dass ich nur Sein Verwalter bin. Diese Gaben haben von Anfang an nie mir gehört. Sie sind nur eine Leihgabe Gottes an mich. Alles in meinem Leben ist nur Seine Leihgabe."
 
Hallo,

ein paar Dinge scheinen mir auffällig an dieser Geschichte. Sie lassen sich gut illustrieren durch die von der Autorin eingestreuten Überlegungen, Bemerkungen:

1) "Wenn alles schiefgeht (wie im Fall einer Vertauschung), dann wird eine Kindheit zum unfreiwilligen Experiment."

Gäbe es je ein Kind, mit dem wir nicht fortgesetzt - von Anfang an - Überraschungen erleben, schöne und schlimme? Auch mit dem unvertauschten Wunschkind? Es IST immer ein Experiment, ein Kind zu haben.

2) "Stolz schaut Sophie zu Manon herüber." Weil die großen Wert auf das Zusammensein mit ihrer Mutter legt.

Ja, das kann schön sein. Aber "Stolz" als einzige oder beherrschende Reaktion? Man könnte sich das Wort auf der Zunge zergehen lassen. Wenn ich auf einen Liebeserweis mit "Stolz" reagiere . . . Hm. Ein sehr weites Feld.

3) Das katastrophale "Problem" des Kuckuckskindes.

Abgesehen davon, daß Kuckuckskinder häufig sind: Woraus leitet ein Mann den Anspruch ab, daß ausgerechnet er lebenslang der einzige Partner "seiner" Frau sein müsse, solle, könne? Weil die Leute reden könnten? Sie sei eine Schlampe? Er sei nicht ausreichend potent? (Diese alte Heilige Kuh.)

4) "Daß ihr eigenes Leben am Tag der Mitteilung des Ergebnisses des Vaterschaftstest den Aggregatszustand ändern würde, haben die beiden nicht geahnt."[/B]

"Ihr eigenes Leben", was ist denn das? Daß vielleicht Manon für beide das Frühstück vorbereitet, so wie es jedem schmeckt. Daß eine von der Arbeit gestreßt, die andere von der Schule fröhlich zurückkommt. Daß man einander erzählt, was los ist mit einem selber (Telling the Microscopic Truth). Daß eine Bauchweh hat und nicht weiß, warum. Und die andere ihr eine Wärmflasche auf den Bauch legt.

Und die biologische Elternschaft? Tja: das sind doch Gedanken. Nur Gedanken. Korrekte - aber sind sie nötig? oder gut? Die verändern doch nicht den "Aggregatszustand" der Frühstücksbrötchen. Nicht den Arbeitsstreß, nicht die Wärmflasche auf dem Bauch. Und schon gar nicht die Erfahrung von Wahrhaftigkeit zwischen diesen zwei Menschen.

Aber müssen unsere Gedanken sich überall einmischen, wo sie gar nicht hingehören? Wer herrscht hier über wen: die Denkende über ihre Gedanken oder umgekehrt?

5) "Klar ist, daß Eltern sich danach sehnen, im eigenen Nachwuchs sich selbst zu erkennen."

Was ist denn daran KLAR? "Klar", das heißt doch "selbstverständlich". Das etwas genauso sein müsse, wie es (vermeintlich) immer ist. Ist das nicht sehr bevormundend? Ein Denkverbot - und gerade ein Mangel an Einsehbarkeit? Haben wir nicht umso mehr "Probleme", je mehr wir für selbstverständlich halten?

Einer meiner Söhne ist adoptiert. Ein paar Tage nach seiner Geburt. (Die Mutter, 16, durfte / wollte ihn nicht behalten.) Ein Inselgrieche. Er war anders, anders als alles, was wir kannten, uns erwartet hatten. Immer wieder pures Staunen: Waaas macht er jetzt? wie kommt er denn darauf? Mir scheint, ich war durch sein Anderssein viel wacher, als später mit unserem ehelichen Sohn. "Mich selbst zu erkennen" in ihm - die Idee tauchte nicht auf.

6) "Schließlich bedeutet die Aufzucht des Nachwuchses, rational betrachtet, eine immense, sich oft über mehr als zwanzig Jahre erstreckende Investition von Zeit, Geld und Gefühlen."

Klar, so redet nicht unsere Autorin sondern ein "Familientherapeut", den sie (gläubig) zitiert.

Ich glaub nicht, daß man diesen Satz kommentieren muß. Allein der Jargon . . .

7) Sophie "will sich nicht zu sehr auf Mathildes Besuche freuen - das würde sie als illoyal gegenüber Manon empfinden."

Da gibt es also ein Gefühl namens Freude. Und dann gibt es ein Ich, das sich aufspielt. Als müsse oder könne es Freude - die ja ein Geschenk des Augenblicks ist - rauf- und runterregeln mit einem imaginären Dimmer. Und zwar gemäß einem Konzept (= Gedankengebilde) von "Loyalität", d.h. von "Gesetzen". (Und wer hat die erlassen . . .?)

Wir machen sowas die ganze Zeit. Mit der Wirkung, daß Gefühle immer weniger echt werden, immer mehr - ja, eben ausgedacht.

8) "Manchmal streift sie der Gedanke, daß eines Tages ein Enkelkind zur Welt kommen wird, das sie nie kennenlernen wird."

Tja. Ein Gedanke. Nicht die Wirklichkeit, Das ist das Grundprinzip des Leidens.

9) "Und der pochende Gedanke, wieso es nicht gelingt, eine Verbindung aufzubauen zu einer Tochter, die lächerliche 35 Kilometer entfernt wohnt."

Eine typisch ausgedachte - viel zu globale, nicht konkrete - Frage. Diesseits der Wirklichkeit. Eine konkrete Frage könnte sein: Welches Ansichtskärtchen könnte meiner Tochter gefallen? Vielleicht etwas drauf zeichnen statt zu schreiben? Oder ein Rätsel? Oder eine Einladung zu einem Kindertheater für die ganze Familie. Unerwidert zu lieben - eine lebenswichtige Kunst.

Und irgendwann reicht's dann. Wenn man das Gefühl hat, man ist lästig. Dann verschwindet man eben, ohne Groll. Vielleicht bin ich "über-flüssig". (Ein gutes Wort.) Und verfügbar bleib ich sowieso

10) Dann Sophies verzweifelte "Philosophie": "Ist alles Zufall? Ist ein Kind austauchbar? Ist es egal, welches Kind einem das Schicksal in den Arm legt? Ist das Leben so ein Lotteriespiel?"

Welträtsel, ja.Fragen, auf die es sogar Antworten gäbe. Aber die sind irrelevant. Viel zu groß.

Relevant ist der jeweilige Augenblick: Welches Brötchen heute zum Frühstück? Vielleicht mal ein anderer Aufstrich? Dann: meine Einsamkeit spüren, den Schmerz. Ich darf dasein. Dann ein neues Bild an die Wand, die schon lange leer ist. Dann . . .

* * *

Das entspricht wohl im Wesentlichen dem von Dir, Kathy, zitierten Abend- und Morgengebet.

Ich vermute aber: es wäre gut, eine alltägliche, einfache Disziplin zu heben, die uns hilft, Gedanken und Wirklichkeit zu unterscheiden. (Keine Philosophie, nichts Esoterisches. Und Psychologie schon gar nicht.)

Eine Disziplin, deren Quintessenz man nicht abends und morgens formuliert, sondern eine, die man dauernd, in jeder Lebenssekunde, praktizieren kann.

Zu unterscheiden: im Bereich des Mikroskopischen. Auf der Ebene der Frühstücksbrötchen. Nicht auf der der großen Theorien. Die ja immer daneben liegen.

Einfach damit wir mehr Zeit und Energie für die Wirklichkeit haben statt für die Gedanken.

Alles Liebe
Windpferd
 
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Das entspricht wohl im Wesentlichen dem von Dir, Kathy, zitierten Abend- und Morgengebet.

Dazu kann ich nichts sagen. Auf der materiellen Ebene kann SCHICKSAL niemals erklärt werden. Je nach BEWUSSTSEIN findet jeder Mensch seinen eigenen Weg, um damit umzugehen. Wenn man sich als Aussenstehender in jedes fremde, "scheinbar schreckliche", Schicksal allzu sehr einklinkt, überfordert man sich und setzt seine Gesundheit aufs Spiel. Ist mir leider früher oft passiert.

Gruss
Kathy
 
Vermutlich ist es garnicht so schwer, sein eigenes Baby nach der Geburt nicht zu 100% wiederzuerkennen, wenn es nicht grade unverkennbare Merkmale besitzt oder man es rund um die Uhr bei sich behält.

Wenn ich mich so an die Geburt unserer Kleinen erinnere... wie oft habe ich sie angeschaut und darüber gestaunt, dass dieses kleine Wunder von uns kommt, in meinem Bauch war und jetzt hier. Wie oft habe ich sie angeschaut, um mir ihr Aussehen genau einzuprägen.

Sie war rund um die Uhr bei mir oder, wenn sie weggebracht wurde, beim Papa (der dann mitging). Aber bei wie vielen Wöchnerinnen ist das nicht möglich?

Kaum vorstellbar, dass vielleicht morgen oder in zwei Monaten oder in zwei Jahren jemand käme und behauptete, unser Baby wäre seines! Ich weiß nicht, ob und wie ich das verkraften könnte. Zum Glück ist bei unserer Kleinen eine Verwechslungsgefahr ausgeschlossen. *schweiß von der Stirn wisch* :)
 
Hallo,

die Geschichte von den vertauschten Töchtern fiel mir immer wieder mal ein. Meine - unbeantwortete - Frage war gewesen:

"Kann man über seine eigenen Tragödien hinausgehen?"

Nun, man kann. Besser: es kann einem geschenkt werden.

Ich erzählte die Geschichte kürzlich einem lebenserfahrenen, weitgereisten, weisen Menschen. Der kannte einen exakt parallelen Fall. Auch zwei Töchter. (Nur daß keiner der Männer sich eifersüchtig getrennt hat.) In Kärnten beheimatet.

Was dort geschah: die beiden Familien trafen sich häufig. Ganz zentriert auf die beiden Kinder. Aber so nach einem Jahr "merkte" eine der beiden Frauen "mit Schrecken", daß sie verliebt war in den "anderen" (den Vater des ihr untergeschobenen Mädchens). Und eine Weile später "merkte" die "andere", daß sie verliebt war in den "einen". Alle Beteiligten lebten - in völliger Offenheit - ihre Leidenschaft und blieben als Paare zusammen.

"Amor vincit omia et nos cedamus amori" (Die Liebe besiegt alles und wir ergeben uns der Liebe. Vergil.) In diesem Fall siegte sie tatsächlich. Und die Beiden gaben sich ihr hin. Einigermaßen mutig.

Jedenfalls blieben diese Großfamilie jahrelang zu sechst zusammen. Das Thema der Vertauschung trat immer mehr zurück. Mein Bekannter hat zuletzt vor zwei Jahren von ihnen gehört. Die Töchter, an der Schwelle der Pubertät, hätten sich darauf geeinigt, daß ihre Eltern eben "verrückt" seien und zugleich "sehr lieb". Eine der Frauen meinte, "ihr Mann" sei eben der, der sie gerade umarme. Und mit "ihrer" Tochter sei es genauso. Eigentlich solle es, sagte sie, für Ihresgleichen eine "Trauung für Vier" geben (sie sind überzeugte Katholiken). Na, wer weiß, vielleicht wird es ja unter Papst Franziskus soweit kommen?

Eigentlich ist das eine Wendung zur Komödie. (Oder zur Operette? Die ist ja nicht notwendigerweise kitschig, sondern u.U. große Kunst.) Das heißt u.a.: die Menschen dürfen weiterleben und es gibt viel zu lachen. Eigentlich nicht mal allzu originell. (Doppelpaare sind ja nicht so selten.) Aber in dieser Ausgangskonstellation muß man erst mal draufkommen. Vielleicht braucht es dazu doch eine höhere Macht? Die Griechen sagten, wenn einer sich verliebte, ihn habe "der Saum des Gewandes der Aphrodite gestreift".

Wohl denen, die dies erleben dürfen. Und den nötigen Mut haben.

Einen schönen Sonntag wünscht
Windpferd
 
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