Hallo,
ich würde behaupten, Liebe sei der ideale Kern, die Mitte von "Beziehung". In letztere mag noch vieles andere eingehen, z.B. emotionale, wirtschaftliche, lebenspraktische, sexuelle Interessen oder Bedürfnisse.
"Liebe" ist keine Gegebenheit der menschlichen Natur. Sondern eine Erfindung. Die erfolgte in Schüben. Etwa bei Sophokles, Platon, in der spätantiken Philosophie, im Hochmittelelter, in der Renaissance, in der Goethezeit, in der Existenzphilosophie.
Diese "Schübe" haben Gestalt angenommen in einigen Mythen oder Erzählungen, die uns ohne größere Abstraktionen unmittelbar ergreifen - wenn wir uns dafür öffnen. Diotima, Antigonae, die Liebenden im Hohen Lied, Dido und Äneas, Amor und Psyche, die klassische vrouwe (Herrin) und ihr ritaere, Heloise und Abälard, Tristan und Isolde, Romeo und Julia, Proeza und Rodrigo, Ingeborg Bachmanns Der Gute Gott von Manhattan usw.
Irgend eine "Beziehung" haben die ja alle. Nur: diese, von Anfang an vielfach minimalistisch, wird - auf der Realitätsebene - immer weniger, verschwindender, nur noch scheiternd. Todgeweiht. Und am Ende stirbt ja mindestens einer der Beiden, meistens Beide.
Nur: der Zusammenhang ist genau entgegengesetzt zu dem, den wir annehmen und bevorzugen: Je näher das Paar dem Scheitern (in der Regel dem Tod) kommt, desto dichter, tiefer, ultimativer, unverbrüchlicher, erschütternderer die Verbindung. Abälard wurde zur Strafe kastriert (real historisch); Rodrigo und Proeza schaffen es nicht, auch nur ein einzige Nacht miteinander zu verbringen aber ihre Begegnung prägt ihre gesamte Existenz. Tristan und Isolde, das Non-plus-Ultra - da gibt es am Ende nur noch Mystik, Einheit von Tod und Liebe, die engste Beziehung im Scheitern der Beziehung (und ein paar ratlose Überlebende).
Na gut, könnte man sagen, diese Dichter sind halt schwerst gestört, beziehungsunfähig mit dieser oder jener Neurose oder Psychose. Aber einmal: es waren meist mehrere Dichter, verteilt auf Jahrhunderte. Der "Stoff" setzte sich durch gegen die Individuen. Und es gab immer ein Publikum. Vor ein paar Jahren war ich in einer legendären Tristan-Aufführung im Aalto-Theater, Essen. Lauter halbwegs g'standene, erwachsene Leute, ersichtlich jenseits der Pubertät - und nach dem ersten und dem dritten Aufzug die Hälfte in Tränen. Ohne die im mindesten zu verbergen. Hunderte. Ich sowieso, klar, aber auch mein Freund und Reisegefährte, ein - so hatte ich gemeint - knochentrockener Mathelehrer.
Wenn wir uns dieser Erfahrungsmöglichkeit verschließen, besteht die Gefahr, daß wir auch in "Liebesdingen" auf die "Austausch-Theorie" hereinfallen, die unsere Unkultur ja fast völlig beherrscht: "Wie du mir, so ich dir." Das heißt, jede Interaktion, jede Beziehung wird konstruiert (vermeintlich begriffen) als Austausch von Gütern mit je bestimmtem Wert - "Sex" gegen Status, Geborgenheit gegen Freiheit, Anerkennung gegen Sicherheit usw. All das übrigens sehr instabil, denn die Wechselkurse können sich ändern, u.U. beim einen anders als beim anderen. Oder manche Güter ändern ihren Wert - z.B. wird "Sex" (jedenfalls der hier verfügbare) langweilig.
Das - falsche - Axiom: es sei meine Leistung, wenn ich jemanden liebe. Und somit stehe mir irgendeine Kompensation zu. Während es in der Tat ein ungeheueres Geschenk ist (von wem auch immer, vielleicht von niemandem), lieben zu können - eines, für das ich im Grund selber Dank schulde (wem auch immer . . .).
Der Titel dieses Thread legt - scheint mir - ein gewisses "Aufrechnen" nahe. Aufrechnen zeigt immer Ungerechtigkeit auf - einfach weil es selbst unangemessen ist, nämlich in Liebesdingen Tauschhandels-Dynamik suggeriert, wo die nicht hingehört. Und im Hintergrund - scheint mir - die Idee eines Kündigungsrechts, wenn's mir zuviel (d.h. zu wenig) wird. O.k. - nur was ich kündigen kann, ist gewiß nicht Liebe.
Tauschhandel kann man schön studieren an Heiratsanzeigen, z.B. in DIE ZEIT. Obwohl die viel magerer geworden sind. Da zählt man seine eigenen assets auf, eine sehr eindrucksvolle Liste - und ganz von selber blickt durch, daß man dafür natürlich eine Menge erwarte. Einer meiner Söhne fällt mir ein, der mir mit 17 einen sehr traurigen Brief schrieb: er müsse sich von seiner Freundin trennen, denn sie habe nur einmal pro Woche für ihn Zeit, aber für ihn gehöre zu einer "Beziehung" mindestens zweimal. Oder Luthers "In der Woche zwier, macht im Jahre hundertvier." Auf so einfache Weise kann man sich und den anderen quälen. (Wie glücklich wäre ich jetzt, wenn die Liebste auch nur einmal pro Woche für mich Zeit hätte.)
Mit diesem Denkstil (genauer: mit dieser nicht hinterfragten Prämisse) kann unser Denken nur lieblos sein. Aber wir ersparen uns die größere Herausforderung: Trotzdem zu lieben. Trotzdem - auch wenn es ungerecht zugeht. Auch wenn die Geliebte ungerecht ist. (Geliebte sind immer ungerecht.) Auch wenn wir nicht kriegen, was wir vermeintlich unbedingt brauchen. Liebe bringt uns unbeirrbar bei, was wir eben nicht brauchen. Daß wir nichts brauchen außer der eigenen Liebe.
"Es schaudert vor der Lieb das Herz,
als wär's der Tod.
Denn durch die Liebe stirbt das Ich,
der mächtige Despot"
(Rumi)
Es schaudert mit gutem Grund.
Alles Allerliebste
wünscht uns
Windpferd
PS: Eine Empfehlung: Peter von Matt: "Liebesverrat. Die Untreuen in der Literatur". (Der Titel klingt allzu einschränkend. Treffender fände ich "Poetische Anthropologie der Liebe".) Der Autor emeritierter Germanist an der ETH Zürich - mit einer vibrierenden, vergegenwärtigenden, sehr präzisen Sprache. Nachfolger von Adolf Muschg und Emil Staiger.