Hallo,
"am meisten geprägt, negativ . . ."?
Relativ leicht erzählbar jedenfalls: "Vati". Er war ein Ultra-Nazi. Stolz darauf, daß er mit seinen Kumpanen ca. 1935 illegal über die tschechische Grenze ging und dort Rundfunksender u.dgl. sprengte. Ich erinnere ihn in glänzender Offiziersuniform, hinter ihm funkelnde deutsche Panzer. Den Hitlergruß, wenn er sein Dienstzimmer betrat. Er plante, nach dem "Endsieg" im "Osten" zu "siedeln", alternativ in "Deutsch Südwestafrika". Meine Mutter schlug und vergewaltigte er. (Hellhöriges Haus.) Meinen Bruder und mich prügelte er auch auch, sadistisch. Sexueller Mißbrauch nur noch sehr vag in Erinnerung, aber eindeutig. Von Mutti toleriert. Er war extrem mit "dem Führer" identifiziert. "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich!" Ich hatte Alpträume von KZs (von denen später natürlich nie jemand gewußt hatte). Ich fantasierte insgeheim, ich sei ein vertauschtes Kind und eigentlich Jude. Ich fand Männer mit angeblich "jüdischen" Gesichtern, Nasen anziehend. "Vati" sagte, ich sei "koa richtiga Bua" oder "a Zeltn", schwer zu übersetzen; "Weichei" gab es damals noch nicht. Das hätte "Woachoa" g'hoaßn.
Was "Vati" jahrelang "im Osten" gemacht hat, hab ich nicht herausgefunden. Im Suff erzählte er Entsetzliches, ganz cool, aber nicht erkennbar, was davon wahr, was Größenfantasie war. Er hatte die Chuzpe, fast immer in der Etappe zu sein, als Nachrichtentechniker. Bei der "Entnazifizierung" wurde er als "Entlasteter" eingestuft, was garnichts bedeutete, aber er bekam seine Stelle wieder. Ich erinnere die Verkündung der Urteile in den Kriegsverbrecherprozessen im Rundfunk. "Vati": "Generäle hängt man nicht!"
"Vati" zeigte mir nach dem Krieg das Konzentrationslager Flossenbürg, damit ich sehe, wie unverschämt die Propaganda der Alliierten arbeite. Dort wurden die Gefangenen in einer Felswand (Steinbruch) zu Tode geschunden. Allein der Anblick. Wer zusammenbrach, wurde erschossen. Sein Kommentar: "6 Millionen Juden, eine unverschämte Verleumdung. Und wenn's stimmt . . . . . . waren's zu wenig." Sowas "prägt" sich ein.
Ich fürchtete, ihm ähnlich zu werden. Betrachtete mein Spiegelbild: die Ähnlichkeit war unübersehbar. Das Thema begleitete mich: wenn ich Jahrzehnte später in meine Heimatstadt kam und mich irgendwo jemand ansprach: "Jo san eppa Sie da Sohn vo der Frau X. Sie schaung ihr aso ähnli." Dann war ich glücklich: jedenfalls nicht Vati ähnlich. Auch wollte ich kein Mann sein, ganz explizit nicht. Andererseits war ich gar nicht schwul - dann hat man schon Probleme, vielerlei. Als wir Kinder hatten, erklärte ich mit voller Überzeugung und (jedenfalls mich) überzeugenden Gründen, Väter seien eine bloß biologische Notwendigkeit, ansonsten überflüssig; ich wolle eine gute Zweitmutter und ein guter Kumpel sein. War ich dann auch - aber nicht ganz das, was Jungen wollen und brauchen. (Sie haben chronische Schwierigkeiten mit Vorgesetzten, mit Ordnungen.)
Mit wahnsinniger Anstrengung bekam ich ein ungewöhnliches Stipendium: Ich konnte unabhängig von "Vati" studieren. Sieben Jahre lang. Ich studierte zunächst katholische Theologie. Er war ja zynischer Anti-Christ. Außerdem wollte ich herausfinden, was der Sinn des Lebens sei. Wollte Priester werden. Meine erste Freundin brachte mich sanft von dieser Idee ab. - Die immerwährende Suche nach einem Vater. Ein weiser Onkel, ein Deutschlehrer (Flötist, ich begleitete ihn auf dem Cembalo; er war schwul, beging Selbstmord, als das aufkam), ein älterer Freund, zwei Psychotherapeuten. Viel später Erich Fried, mit dem sogar Kontakt zustande kam: Dichter, Jude, Rebell (was wollte ich mehr) - und ein sehr lieber Mensch. Später mein Mentor als Psychotherapie-Anfänger; ein Schüler von Graf Dürckheim. Meine Verehrung für, Liebe zu Max Frisch; beinah wäre ich ihm ratsuchend im Tessin ins Haus gefallen. (Zum Glück hab ich's nicht getan.) Recht gut gewählt eigentlich.
Schließlich bekamen mein Bruder und ich meine (katholische) Mutter dazu sich von ihm zu trennen. (Es gab natürlich niemals Gäste bei uns.) Durch einen Trick schmälerte er ihre Rente erheblich. Sie blühte nochmal auf, für lange Jahre.
Nach einem Streit bei einem Besuch zuhause schrie ich ihn an "Du Tyrann!" Er ging mit einem schweren Kerzenleuchter auf mich los, ich fürchtete seine körperliche Überlegenheit und floh. Im Treppenhaus fiel mir ein, daß die Haustür zu diesen Zeit abgeschlossen war; so sprang ich aus dem Fenster, 1. Stock. Mein letzter Besuch dort.
Nach dem "Zusammenbruch" 45 sah er keinen Sinn mehr in seinem Leben. Er rauchte Ketten, fraß sich fett, soff (bevorzugt Cinzano), bewegte sich nicht. Zeitweilig war er psychiatrisch hospitalisiert wegen Depression, was geheimgehalten wurde; ich erfuhr erst nach seinem Tod davon. (Im Rahmen meiner generellen Hypochondrie entwickelte ich heftige Psychosenfurcht.) Er wolle sehr schnell sterben, ohne etwas zu merken. Mit 62 der ersten Herzinfarkt, mit 65 der gewünschte Sekundenherztod.
Für mich war 45 nicht Zusammenbruch sondern Befreiung. Ich war begeistert von den Amerikanern, die leger in ihren Jeeps lümmelten und Kaugummi verteilten. Suchte vergeblich Kontakt mit ihnen. Meine schrankenlose Begeisterung, als ich in der Schule vom Grundgesetz hörte. Dessen Artikel waren wie Musik. Jetzt war "Vati" endgültig entmachtet. Die Würde des Menschen. Die verschiedenen Freiheiten. Die Sensation, Revolution: die Urteile des Bundesverfassungsgerichts "binden alle Verfassungsorgane als unmittelbar geltendes Recht". Linke Gruppen, außerparlamentarische Opposition, Anti-AKW-Bewegung (Brockdorf), gegen "Nachrüstung", Mitbegründer der Grünen, Mitarbeit bei Organisationen gegen sexuelle Gewalt und weibliche Genitalverstümmlung.
Später: sehr viel "platonische" Liebe. Vielleicht etwas zu viel. Ich nahm "als Hobby" Schauspielunterricht, übte bevorzugt Frauenrollen. (Ophelia, die Glanzrolle; als ich sie zum ersten Mal wählte, meinte der Lehrer, das habe er sich gedacht.) Ich nannte mich einen "Feministen", unternahm Einiges in diesem Zusammenhang. (Mann wurde in diesen Gruppen eher mißtrauisch beäugt.) Etliche Univeranstaltungen mit überwiegend weiblichem Akzent (Sexuelle Gewalt, berufliche Diskriminierung, Androgynie etc.)
Sorry: nicht ordentlich in chronologischer Reihenfolge erzählt. Das Gedächtnis funktioniert nicht ganz linear; es hat anscheinend Knoten.
Also, im Grund das meiste negativ. Aber manches mit positiven "Nebenwirkungen". Dennoch bleiben ein Ungenügen, eine Trauer.
Mitgefühl mit meinem Vater konnte ich erst lang nach seinem Tod entwickeln. Nach langem buddhistischen Training. Er hat nie gelernt, was Lieben, was Zärtlichkeit sein könnten. Er hatte in dieser harten Männerwelt keine Möglichkeit, dies zu lernen. (Seine Stiefmutter völlig unterwürfig, wie abwesend; sein Vater vertrocknet, mit einer Stimme ähnlich der des Raben, der stets auf seiner Schulter saß.) "Es sind Menschen, für die es einen richtigen Weg nicht gibt" (Thomas Mann). Wenn ich an ihn denke, liegt mir die Idee von Reinkarnation nahe: Er sollte noch eine Chance haben. (Bei Max Frisch gibt es eine längere "Liste der Dankbarkeiten", darunter lapidar "Der frühe Tod des Vaters". nein, das wär für mich nicht alles.)
Was noch schwieriger (zu schwierig für mich) zu erzählen wäre: die zwei Menschen die ebenso (oder noch stärker) "prägend" waren: meine Mutter (eine ganz andere Welt). Und mein buddhistischer Lehrer, Meister, Guru (von jenseits der "Welt", deshalb in ihrer Mitte.) Genauer: letzterer hat die früheren "Prägungen" respektiert und verwandelt. Er war ein Liebender.
"Thank you for your attention", würde man in Amiland sagen.
Schönen Abend
wünscht
Windpferd