Diebstahl der Kindheit? - Abitur nach zwölf Jahren

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In der Bundesrepublik gibt es inzwischen in vielen Bundesländern das Abitur nach nur zwölf Jahren. In meinem Bundesland heißt dies, dass die Kinder einen deutlich längeren Schultag haben, dass sie sehr viel mehr lernen müssen und dass die Wahrnehmung von Freizeitinteressen während der Woche kaum noch möglich ist, da das Lernpensum komprimiert in zwölf statt dreizehn Jahren bewältigt werden muss.
Als Grund dafür wurde, vor einigen Jahren bereits, die Behauptung angegeben, dass die deutschen AbiturientInnen später als viele ihrer europäischen und vor allem ihrer amerikanischen KollegInnen, im Studium - bzw. auf dem Arbeitsmarkt - ankommen.

Was bedeutet dies für unsere Kinder? - Der "Spiegel" hat unlängst mit einer Überschrift, ein wenig reißerisch alarmiert: "Diebstahl der Kindheit!"

Überstürzt und schlecht vorbereitet haben viele Bundesländer die Schulzeit zum Abitur auf zwölf Jahre verkürzt. Eltern, Lehrer und Schüler müssen die Fehler jetzt ausbaden.

Der Spiegel beschreibt die Geschichte eines Fünfklässlers, der mit viel Elan und Freude im Sommer auf das Gymnasium ging und sich nun als überfordert zeigt. Bildung: Diebstahl der Kindheit - SchulSPIEGEL - SPIEGEL ONLINE - Nachrichten

Gestern erzählte mir eine etwas ältere Freundin meiner Tochter, die in der zehnten Klasse ist, dass vier von acht Kindern aus ihrer Klasse, die sich für das Abitur in zwölf Jahren angemeldet hatten, die Versetzung in die übernächste Klassenstufe nicht schaffen werden.

Ich sage es hier ganz ehrlich: Ich bin ein Gegner der Reduzierung von Lernzeiten. Kinder und Jugendliche brauchen mehr als reine Stoffvermittlung. Ich bin heute noch überzeugter als vor zwei Jahren, dass es richtig war, meiner Tochter die vollen dreizehn Jahre zu ermöglichen und sie in ihrer Entscheidung dafür zu unterstützen. Ich finde, dass es die Kinder schwer genug haben. Außerdem vermittelt ihnen, eine sinnvoll genutzte Freizeit, sehr viel mehr an sinnvoller und verwertbarer Lernerfahrung, als das eine, auf kognitives Lernen immer mehr abgezielte Schulausbildung, vermitteln kann. So denke ich!

Was meint Ihr? - Und wie sieht es im übrigen Europa aus?

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich stimme dir da voll zu. Es macht für mich wenig Sinn, die Woche so voll zu packen, nur um ein Jahr zu sparen.
Es gibt aber wohl die Möglichkeit auf die Waldorfschule auszuweichen, da hat sich wohl nichts geändert. Obwohl die Wochenstunden dort auch mehr sind als im G9.
 
Hallo Leòn

Ich denke 12 Jahre reichen voll und ganz. Hier bei uns war nie was anderes üblich, und z.B. meine Kinder sind damit problemlos zurechtgekommen.
Ich kann mich nicht erinnern, dass sie dadurch übermäßigen Stress hatten ... :keineahnung:

Und wenn, wäre es gleich eine gute Voraussetzung für manches - dann echt stressreiche - Studium!
Zudem finde ich es sehr gut, dass so die Kinder früher unabhängig sind. :)
Es ist doch grauenhaft, wenn Kinder, bis weit ins hohe Alter ;) ,am Tropf der Eltern hängen!

Lieben Gruß

PS: Das dreizehnte Jahr (im Westen) war doch eh nur Schauspielunterricht ... :D
sagt man bei uns :wave:
 
Der Knackpunkt ist, dass ein Jahr weniger Schule auch ein Jahr weniger Lernstoff bedeuten muss. Solange es unsere Schulbehörden nicht schaffen, die Lehrpläne zu entrümpeln, bedeutet G8 leider für Lehrer wie Schüler nur, das Pensum eben zu pressen, wo's geht. Ich krieg das grade ziemlich hautnah mit in BW. "Feierabend" und "Lernfreies Wochenende" ist für die meisten Schüler mittlerweile ein Fremdwort. Und das kann's wirklich nicht sein.
Gruß
mezzadiva
 
Hallo Valentin, Ixie und Mezzadiva,

ein Jahr weniger zur Schule zu gehen, bedeutet heute, ein Jahr weniger Zeit zu haben und somit viel weniger am Tag für anderes zu haben. Und eben nicht weniger Lernstoff. Sondern die Kinder müssen in zwölf Jahren das erarbeiten, für das sie früher dreizehn Jahre Zeit hatten. Damit sind allerdings grundlegende Bildungsproblematiken, wie Rechtschreibprobleme etc. ohnehin nicht behandelt!

Ich finde es nicht besonders erquicklich, zuzusehen, wie sich in unserem Land, durch eine immer kürzer werdende Schul- und Ausbildungszeit und durch immer mehr Privatfinanzierung - und durch die daraus entstehende Vorenthaltung von Bildung gegenüber immer größer werdenden Bevölkerungsgruppen - ein Szenario einstellt, das man sonst eher mit "Bananrepubliken" (nichts gegen Bananen!!!) gleichsetzt!

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Das Problem würde ich eher da sehen, dass viel zu viele, und oft die "falschen" Kinder Abitur machen wollen!
Da man dies nicht verbieten kann, muss man eben den Schwierigkeitsgrad erhöhen. :kraft:

Im Osten wurden die Kinder immer "ausgesucht" - das war m.E. nicht nur falsch und sehr ungerecht, sondern zudem auch ziemlich menschenverachtend.
Insbesondere sind Lehrer ja meist keine geistigen Größen - sondern nur bessere Erzähler.
Wie sollen diese Leute das Potential eines Kindes einschätzen können? :mad:

Lieben Gruß
 
Moin Zusammen,

was heißt "die falschen Kinder wollen Abitur machen"?

Also ich seh es bei meinem Sohn gerade, der kein Abi hat, er möchte am liebsten Tierpfleger werden (einfacher Ausbildungsberuf) und durfte die Erfahrung machen: Ohne Abi haste keine Chance einen Ausbildungsplatz zu bekommen!

Wundert es da wirklich noch das "alle Eltern" ihre Kinder am liebsten aufs Gymnasium schicken wollen?

Ich persönlich finde unser gesamtes Schulsystem nicht mehr in Ordnung!
Nicht nur das Jahr das zum Abi gestrichen wurde, auch was mit Real- und Haupt- Schulen in den letzten 20 Jahren passiert ist wirkt auf mich sehr Bedenklich!

Ich gehöre übrigens zu den Kindern die zwar leistungs- und intelligenz- Mäßig eine Empfehlung bekamen aber.... tja Abi durfte ich dann trotzdem nicht machen.

Liebe Grüße,
Cailly
 
Moin Zusammen,

was heißt "die falschen Kinder wollen Abitur machen"?

Also ich seh es bei meinem Sohn gerade, der kein Abi hat, er möchte am liebsten Tierpfleger werden (einfacher Ausbildungsberuf) und durfte die Erfahrung machen: Ohne Abi haste keine Chance einen Ausbildungsplatz zu bekommen!

Wundert es da wirklich noch das "alle Eltern" ihre Kinder am liebsten aufs Gymnasium schicken wollen?

Es wundert natürlich nicht. Aber der Sinn eines Abis ist m.E. verloren gegangen.
Früher hat mal ein Schüler aus der Klasse Abitur gemacht - und der war in der Regel auch wirklich etwas begabter als der Rest.
Wobei dies aber leider doch kein brauchbares Kriterium ist! So sind Leute mit einem guten Gedächtnis in der Regel z.B. absolut keine Erfinder.
Sie schöpfen einfach ständig aus ihrem Speicher ...

Aber mit einem guten Gedächtnis ist es relativ einfach möglich, sehr gute Noten im jetzigen Schulsystem zu erlangen ...

Ein gutes Beispiel ist z.B. Manfred von Ardenne. Manfred von Ardenne - Wikipedia
Dieser Mann wäre ganz sicherlich im deutschen Schulsystem untergegangen - hatte aber das Glück auf anderen Wege weitermachen zu können.
Diese Voraussetzungen haben heute aber nur noch wenige, und so bringt dieses System doch schon lange nix wirklich Neues mehr hervor.
Es verwaltet doch irgendwie nur noch die Substanz aus besseren Zeiten?!

Es kann doch nicht das Ziel sein, möglichst vielen Menschen das Abitur oder ein Studium zu ermöglichen.
Das Ziel muss sein, dass endlich wieder mal was rauskommt ... :bang:
Davon profitieren doch dann alle! :fans:

Lieben Gruß
 
Das Abitur nach zwölf Jahren: Wie ist das zu schaffen?

Seit 2001 sind viele Bundesländer dem Beispiel des Saarlands gefolgt und haben die Zeit bis zum
Abitur auf zwölf Jahre verkürzt. Nach vier Jahren Grundschule können Mädchen und Jungen jetzt das
achtjährige Gymnasium – auch G8 genannt – besuchen. Dort wird nicht weniger gelehrt und gelernt
als früher, sondern die Stunden aus dem neunten Schuljahr werden auf die anderen Jahrgangsstufen
verteilt. Je nach Modell werden die Unterrichtsstunden pro Woche von durchschnittlich 30 auf 33 bis
37 erhöht. Um das Pensum zu schaffen, werden Gymnasien Quasi-Ganztagsschulen – aber ohne
eine Rhythmisierung des Unterrichts.

Und jetzt die Konsequenzen:
Die Gesamtunterrichtszeit bis zum Abitur (mindesten 265 Wochenstunden) bleibt gleich, sie wird nur
neu verteilt. Deshalb soll es Einsparungen bei den Lehrerstellen nicht geben. Stattdessen gibt es erste
Anzeichen dafür, dass der Unterrichtsstoff früher vermittelt wird. In den fünften und sechsten Jahrgangsstufen
(in manchen Bundesländern noch eine Probe- oder Orientierungsphase) wird der Leistungsdruck
erhöht und dann ausgesiebt. Wer mithalten kann, darf auf dem Gymnasium bleiben, wer
nicht mithält, muss runter. Die Selektion wird verstärkt und die ohnehin nur minimale Durchlässigkeit
nach oben wird noch weiter abgebaut.
Die Regelzeit bis zum Haupt-, Real- oder Gesamtschulabschluss wird jedoch meistens nicht gekürzt.
Deshalb wird es auch Schüler und Schülerinnen geben, die immer noch dreizehn Jahre für das Abitur
brauchen. Ob dies zu einer Benachteiligung – etwa bei der Vergabe eines Ausbildungsplatzes oder für
die Berechnung des Numerus Clausus – führen wird, ist noch nicht absehbar. Aber solange es ein
„schnelles“ und ein „langsames“ Abitur gibt, werden manche das eine für besser halten als das andere.
Schließlich produziert die Umstellung auf eine verkürzte Schulzeit einen doppelten Abiturjahrgang. Der
letzte Jahrgang mit einer 13-jährigen Schulzeit wird gleichzeitig mit dem ersten „Abi-nach-zwölf“-
Jahrgang seine Studienberechtigung erlangen. Je nach Bundesland werden zwischen 2007 und 2014
bis zu 65.500 (im Jahr 2011) zusätzliche Abiturienten entlassen (siehe Graphik). Die Kultusministerkonferenz
(KMK) geht davon aus, dass zwischen 70 und 80 Prozent der Studienberechtigten tatsächlich
ein Studium anfangen. In diesen Jahren wird es einen Ansturm auf die Hochschulen geben, die
schon jetzt große Probleme mit überfüllten Hörsälen und zu wenig Personal haben.
www.bundeselternrat.de/fileadmin/pdf_dateien/dokumentationen/wissenswertes/abi_zahlen.pdf

Hier findet man eine Stellungnahme des Landeselternbeirates von Baden - Würtemberg:
forum-kritische-paedagogik.de/start/e107_files/downloads/lebzug8.pdf
Herzliche Grüße von
Leòn
 
Ja, nun ist es auch dem niedersächsischen Kultusminister aufgefallen, dass die SchülerInnen mit dem Abitur nach 12 Jahren, bei Beibehaltung des Lehrstoffes, überfordert sind. Und nun? Die Antwort soll sein, die Stunden wieder zu rezuzieren, die 12 Jahre bleiben aber bestehen. Dafür soll der Lehrstoff dann "entfrachtet" werden.
Das kann ich mir bestens vorstellen, wie solch eine "Entfrachtung" aussehen wird: vermutlich geht das dann auf Kosten der wichtigen musischen und sozialen Fächer. Na Spitze!:mad:

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Gestern habe ich ein Interview mit dem GEW - Vorsitzenden Niedersachsens gehört. Der äußerte die Vermutung, dass es den Kultusministern von Anfang an klar gewsen sei, dass sich die nun entstandenen Überforderungssituationen einstellen würden. Sie hätten dies von Anfang an in Kauf genommen und die inhaltliche Reduzierung werde nur auch bald in Kauf genommen.
Unterm Strich heißt das ja nichts anderes als: weniger Bildung. Naja ... wenn das die Antwort auf die PISA - Ergebnisse ist?

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Lieber Leon,
ich finde 12 Jahre auch ausreichend. Ich kenne es auch nicht anders. Das 13 Jahr hatten manche lediglich suzusagen "freiwillig" gemacht, um den ganzen Stoff der 12. Klasse für die Prüfungen einfach noch mal durchzukauen. ( Obwohl Sie gut waren ! )

Das Thema, was Valentin anschnitt, mit der Waldorfschule finde ich persönlich gut. Hatte die Waldorfsschule nicht auch mal überlegt, sogar noch ein 14. Jahr für Freiwillige mit anzuhängen?

LG NellyK
 
PS. Weiss jetzt nicht ob das mit in den Thread passt, ich schreibe es vorerst hier nieder.

Im Forum wurde bestimmt auch schon über die allgemeine Schulpflicht diskutiert. Das Thema finde ich zum diskutieren und zum Meinungsaustausch auch sehr interessant.

Schulpflicht besteht meines Wissens nach bei uns, nur in Deutschland und der Slowakei. Vor nicht allzu langer Zeit, kam ein Beitrag in Stern TV über eine 4 Köpfige Familie, dessen 2 Knaben lediglich ein paar Tage in der 1.Klasse einer Grundschule waren, soweit ich den Beitrag verfolgt habe.
Anschließend meinten die Eltern, Ihre Kinder hätten selbst entschieden, von Ihnen - den Eltern zu Hause unterrichtet werden zu wollen.
Die Kinder hatten lediglich kollektive Ängste, die meines Wissens nach hätten richtig "behandelt" werden müssten. Im Sinne von elterlichen Begleiten,Unterstützen, Ermutigen exc. . Begleiten im Sinne vom Tagesablauf bis Schulweg u. Nachhauseweg und Begleiten im Sinne von positiver Nachahmung und Lebensbegleitung. ( Ich bin immer gegen das Wort ERZIEHUNG. )

Da die Ämter eingreifen wollten, was mein letzter wissender Stand ist, haben Sich die Eltern entschieden in ein schulpflichtfreies Land auszuwandern.

Was denkt Ihr darüber ??? Über den Sachverhalt, über die freie Schulbildung, Privatlehrer, Schuluniformen exc.

Mfg.: NellyK
 
Unterm Strich heißt das ja nichts anderes als: weniger Bildung. Naja ... wenn das die Antwort auf die PISA - Ergebnisse ist?

PISA und Günther Jauch ist irrelevant ... :rolleyes:

In paar Jahen hat man einen Taschen-PC ... mit dem man sich unterhalten kann :rolleyes:
Und in weiteren paar Jahren bekommt man einen Chip implantiert, welcher das ganze Wissen (zumindest das, welches freigegeben ist ;) ) der Welt enthält.

Die Zeiten der Informationsspeicherung sind vorbei! Es werden die Zeiten der Informationsverarbeitung kommen. Und da sollte die Schule sich endlich mal hinbewegen ... :bang:
Wenn sie das tun würde, könnte man die Schulzeit erheblich reduzieren und hätte effektiv viel mehr bezweckt!
Ich frag mich schon mein Leben lang, warum ich z.B. singen lernen musste, obwohl ich dafür eindeutig zu blöd bin?!
Hätte ich für die Zeit nicht was machen können was mir liegt? :D

Lieben Gruß
 
Ich habe nach 12 Jahren Abitur gemacht und hatte nicht den Eindruck, dass mir jemand die Kindheit gestohlen hätte. Der entscheidende Punkt ist, was packt man alles für Stoff hinein. Ich hatte seinerzeit, 10 Jahre nach dem Abitur, das Bedürfnis mir noch einmal anzuschauen, was wir damals gelernt hatten und war entsetzt wieviel unnützes Zeug schon damals dabei war: Goniometrische Gleichungen, endloses Zeichnen von Kristallgittern, die Fortbewegungsmöglichkeiten des Pantoffeltierchens und so weiter.

Wenn man also von 13 auf 12 Jahre die Schulzeit verkürzt, dann muss man gleichzeitig Stoff streichen. Es ist ohnehin unsinnig pubertierenden Kinder das Hirn mit detailliertem Fachwissen vollzustopfen. Entweder man vergißt es gleich nach der Prüfung oder es kann im Prinzip und Einzelfall Interesse geweckt werden; dann pflegt man Wissen später ohnehin weiter.

Viele Grüße, Horaz
 
Hallo NellyK,

mich würde die Wochenstundenzahl interessieren (A12) ... :)

Hallo Ixie,

also da bin ich schon anderer Meinung: individuelles Wissen und das Wissen um seine Anwendung wie um den Wissenserwerb, finde ich schon sehr wichtig, gerade wenn man ein wenig kulturpessimistischer denkt als Du ;)!

Hallo Horaz,

es ist ja so die Frage, welcher Stoff tatsächlich relevant ist ... da gehen die Meinungen von Schülern und den jeweiligen FachvertreterInnen weit auseinander. :D

Selbst wenn man der Ansicht ist, dass weniger Fachinhalte denn Lernkompetenz wie Grundlagenkompetenz vermittelt werden sollten, sind 13 Jahre ja wohl günstiger als 12.

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Zuletzt bearbeitet:
Es gibt wirklich "geniale" Lösungsideen - leider nicht gehört, aber gerade entdeckt:

Auf ein Wort | 07.02.2008 18:20 Uhr
Samstags gehören meine Kinder mir

Hamburgs Bildungssenatorin Alexandra Dinges-Dierig hat ein Herz für gestresste Gymnasiasten, die es in nur noch acht Jahren bis zum Abitur schaffen sollen. Man könne ja das verdichtete Pensum besser verteilen und damit "die Belastung der Schüler entzerren". Der Vorschlag: Unterricht auch am Sonnabend. Regina König bittet dazu auf ein Wort:

Kinder können echt viel vertragen. Ich selbst habe trotz Ganzwortmethode und Mengenlehre lesen, schreiben und rechnen gelernt, ein paar Kurzschuljahre überstanden und Kopfnoten konnten mein soziales Verhalten nur unwesentlich beeinflussen. Hausaufgaben fand ich immer doof und zuviel, Sonnabends hatten wir Sport und Heimatkunde. Bis auf den Titel habe ich das Gedicht "Die Füße im Feuer" von Conrad Ferdinand Meyer ebenso vergessen wie Logarithmen oder die Schlachten im 30-jährigen Krieg. Irgendwie hat Schule trotzdem Spaß gemacht, und das lag vor allem daran, dass wir von Frauen und Männern unterrichtet wurden, die ein Feuer in uns entfachen konnten: Für etwas Neues, eine Idee, ein Projekt - und dann hatten wir Lust, auf eigene Faust weiterzulesen und zu -forschen. Vielleicht hatte ich einfach Glück, aber ich fühlte mich in der Schule ernst genommen und meine Eltern haben sich nie eingemischt, sondern die Sache den Fachleuten überlassen.
Nun habe ich selbst schulpflichtige Kinder und blicke echt nicht mehr durch:
PISA und Kindergartenstudien, Regional-, Gemeinschafts-, Stadtteil- und Gesamtschule, G-8-Abitur und gegliedertes Schulsystem, Projektunterricht und frühkindliche Bildung. Jede Woche wird eine neue Bildungssau durchs Dorf getrieben, und ich kann Ihnen nur sagen: Ich habe keine Lust mehr darauf! Und ehrlich gesagt, verstehe ich auch die Probleme nicht. Die jüngste Debatte um Unterricht am Sonnabend treibt das Chaos auf die Spitze. Wenn man nun unbedingt die Gymnasialzeit um ein Jahr verkürzen will, damit unsere Studenten nicht so alt sind, dann gibt es doch nur eins: Die Lehrpläne müssen entrümpelt werden! Wieso sollte überflüssiger Stoff auf den Sonnabend überschwappen? Mir hat der Unterricht am Sonnabend vielleicht nicht geschadet, aber heute sage ich: Meine Kinder gehören am Samstag mir! Sonst würde ich sie nämlich nur schlafend sehen. OK, ich könnte unter der Woche auch zu Hause bleiben, müsste dann aber den Job aufgeben und Hartz IV beantragen, und ich weiß nicht, ob das eine gute Lösung ist.
Deswegen schlage ich vor, in den Bildungsministerien die sechs Tage-Woche einzuführen, meinetwegen auch die sieben Tage-Woche. Dann können die Damen und Herren endlich vernünftig und in Ruhe planen. Ein paar Bildungsreisen nach Schweden oder Finnland sollten auch drin sein, denn da funktioniert es gut, das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich bin auch gerne bereit, ein paar Tipps zu geben: Erstens schaffen wir in Bildungsdingen den Föderalismus ab. Das setzt erhebliche Mittel frei für mehr Pädagoginnen, Schulpsychologen, Schulärzte und Projektbetreuerinnen. Zweitens führen wir allüberall die Ganztagsschule mit kostenlosem Mittagessen ein und schaffen Hausaufgaben ab. Drittens: Wir einigen uns auf eine Schulform, in der alle Kinder individuell gefördert werden. Wie diese dann letztendlich heißt, ist mir schnuppe. Ohne pädagogisches Talent darf niemand unterrichten. Nach der Entrümpelung der Lehrpläne bleibt an den Nachmittagen Zeit für Töpfern und Kochen, Schwimmen und Waldausflüge.
Die Schulen nutzen wir am Sonnabend bis auf weiteres für die Elternfortbildung: Teil eins: In der Familie lernen Kinder Umgangsformen und Rücksichtsnahme. Teil zwei: Eltern dürfen sich nur in Notfällen in Schulbelange einmischen. So, und wenn das alles erledigt ist, bleibt nur noch eins zu tun: Weitere Diskussionen über Schulpolitik werden erst mal VERBOTEN, außer bei Familienfeiern von Bildungspolitikern in geschlossenen Räumen.

Autor: Regina König

Stand: 07.02.2008 17:14 Uhr
NDR Info - Programm - Sendungen

(Ironie an) Also ehrlich, das hat uns doch auch nicht geschadet! (Ironie aus)

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Zuletzt bearbeitet:
Hai,

also heute würde ich es etwas anders formulieren: "Abitur nach zwölf Schuljahren - Vorenthaltung von (Lern)Erfahrung?":schock:

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Ich denke auch, daß es letztlich egal ist, ob man das Abitur ein Jahr früher oder später macht. Mit "gestohlener Kindheit" hat das für mich nichts zu tun sondern mit dem Lernstoff und der Fähigkeit (erlernbar) zu lernen. Natürlich gehört die Fähigkeit, Stoff zu vermitteln genauso dazu.

In Bayern wurde ja der Übergang im Abitur sehr schnell eingeführt. Und es gibt immer noch Proteste.
Die Hauptprobleme scheinen aber darin zu liegen, daß der Lernstoff nicht durchgeforstet wurde, was ich unmöglich finde, und daß die äußeren Gegebenheiten nicht wirklich mit eingeplant wurden, damit die Schüler z.B. in der Schule essen können, sich aufhalten können usw.

Ich plädiere weiter für die Ganztagsschule und eine gemeinsame Schule bis mindestens einschließlich 6. Klasse, Wegfall der Hausaufgaben, weil die dann in der Schule gemacht werden können, weniger Ferien und entsprechend anders aufgeteilten Unterricht.


Gruss,
Uta
 
Hallo Uta,

also, bis auf das mit den Ferien :D bin ich Deiner Meinung!

Ich sehe auch das Hauptproblem darin, dass man zu schnell und ohne inhaltliche Konsequenzen zu ziehen, auf den "Zug" aufgesprungen ist.

Die Frage ist natür4lich, welchen Unterrichtsstoff man "opfert" und ob das - wenn man den europäischen Vergleich sieht - wirklich sinnvoll ist.
(Was das betrifft finde ich nach wie vor, dass die Kinder zu wenig lernen zu lernen ;))!

Wenn ich bedenke, dass man in einigen Bundesländern über eine (pflichtgemäße) Einschulung mit fünf Jahren nachdenkt und das dann ähnlich ungeplant und kindgemäß umsetzt, darüber möchte ich gar nicht nachdenken!
Aber das ist natürlich ein anderes Thema!

Herzliche Grüße von
Leòn
 
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