Angeboren oder erlernt?

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Die Diskussion darüber, ob auch charakterliche Eigenschaften und Verhaltensweisen vererbt werden, ist weiter im Gange.
Klar ist es, daß bestimmte äußere Merkmale von den "Ahnen" an die Kinder weitergegeben werden, wobei manchmal auch eine Generation übersprungen wird. Die große Nase des Großvaters z.B. mag manchen Enkel nicht unbedingt erfreuen, ist aber eindeutig ein Erbe.

Welche Merkmale sind angeboren?

Zahlreiche individuelle Merkmale wie konstitutionelle Faktoren realisieren sich zwangsweise durch die genetische Ausstattung (Augenfarbe, Haarfarbe, Körpergröße, Temperament, Aktivität, Vitalität), andere biopsychische Faktoren sind im Wesentlichen in Form von Dispositionen vorgegeben, d.h., als Potenziale angelegt, sodass ihre Realisierung von den Lern- und Erfahrungsmöglichkeiten bzw. den im Verlauf der individuellen Entwicklung von der Umgebung erhaltenen Stimulationen abhängig ist. Nach neuesten Forschungen ist neurologisch belegbar, dass nicht nur die Funktionsfähigkeit der Nervenzellen und die Zahl der Verknüpfungen zwischen den Zellen, sondern auch ihre organologische Ausreifung in großem Umfang von spezifischen Umweltreizen abhängt (Sehfähigkeit, Sprachfähigkeit usw.).

Unter angeborenen Verhaltensweisen findet man in der Hauptsache Reflexe, Automatismen und Instinkthandlungen. Reflexe sind einfache Reaktionen auf einen inneren oder äußeren Reiz, die immer auf die gleiche Art und Weise ablaufen. Zu den Reflexen gehören so lebensnotwendige Phänomene wie das Atmen, der Schluckreflex, der Husten- und Niesreflex sowie der Saugreflex. Reflexe sind vom Willen her nur begrenzt steuerbar und haben meist eine vitale Schutzfunktion. Der Lidreflex etwa, der von schnell aufs Auge zukommenden Gegenständen ausgelöst wird, bewahrt das Auge vor Verletzungen. Auch Automatismen, wie die Auslösung des Saugreflexes durch Berührung von Lippen und Wangen des Säuglings oder wie die Koordination der Beinbewegungen beim Laufen, sind angeboren. Sie müssen zwar erst ausreifen (s. u.), brauchen aber nicht über einen längeren Zeitraum etwa durch Übung erlernt zu werden. Instinkthandlungen sind gleichfalls genetisch festgelegt, sind aber im Vergleich zu Reflexen relativ komplexe Verhaltensweisen, die sich aus mehreren Teilhandlungen zusammensetzen. Sie werden meist durch einen spezifischen Reiz determinierend ausgelöst und sind auch dadurch gekennzeichnet, dass das Verhalten augenblicklich verfügbar ist, wenn es zur Erhaltung des Lebens gebraucht wird, sei es des eigenen - z.B. ist das Saugen beim Kleinkind sogar schon vor der Geburt nachweisbar - oder des Lebens der Nachkommenschaft - Eltern begeben sich im Notfall sogar in lebensbedrohliche Gefahrensituationen, um den eigenen Nachwuchs zu schützen.

Es gibt auch viele sozial wichtige Gesten und Gebärden, die nicht gelernt werden müssen und nachweislich allen Menschen gemeinsam sind. Solche Verhaltensweisen bezeichnet man als Erbkonstellationen. So ist die Bevorzugung von Nischen, an denen wir mit dem Rücken zur Wand sitzen können, die Bevorzugung von Höhlen beim Kinderspiel aber auch die Angst im Dunkeln im Wesentlichen angeboren. Auch die Tendenz des Menschen, in jeder Gruppe, die längere Zeit beisammenbleibt, eine oft hierarchische Ordnung zu bilden, ist vermutlich eine Erbkonstellation. Der wissenschaftliche Nachweis solcher komplexen sozialen Mechanismen ist aber schwierig und wird daher immer kontrovers diskutiert.

Allerdings gibt es beim Menschen im Vergleich zu anderen Lebewesen wesentlich weniger Merkmale, die eindeutig in genetischen Programmen ihre Grundlage haben, d.h., der menschliche Säugling ist im Vergleich zu anderen Lebewesen mit relativ wenigen angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet. Nicht zuletzt ist es gerade diese "mangelnde" Vorprogrammierung, die in wesentlichen Punkten das typisch Menschliche ausmacht, wobei die lange Phase des Heranwachsens, also des Kindseins, jener Lebensabschnitt ist, in welchem die "Frühgeburt" Mensch sich zum erwachsenen Menschen entwickeln kann. Vereinfacht gesprochen: die lange Zeit der Kindheit und auch Jugend charakterisiert den Menschen als Lernwesen mit den größten Chancen, sich über vorprogrammierte Verhaltensmuster hinaus zu entwickeln....
Angeboren oder gelernt? - Reifung und Förderung in der kindlichen Entwicklung

Uta
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Diskussion darüber, ob auch charakterliche Eigenschaften und Verhaltensweisen vererbt werden, ist weiter im Gange.

Der Spruch "Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm" fällt mir hierzu ein.

Er beruht auf Erfahrungswerten und trifft nicht selten zu.

Sicherlich spielt aber die Prägung eine große Rolle.


Gruß, Bodo
 
Trotzdem ist es oft überraschend, wie verschieden Geschwister sein können, auch wenn sie die gleichen Eltern haben.
 
Hi!

Ich habe zwei Söhne, die drei Jahre auseinander sind und doch oft für Zwillinge gehalten werden (okay, unser "Kleiner" ist so ziemlich groß ;)). Äußerlich sind sie sich also ziemlich ähnlich, der Charakter dagegen ganz schön unterschiedlich.
Und sie tendieren optisch beide sehr zu meinem Mann, auch das ist ja vererbt, schon klar!

Aber unser Kleiner ist meinem Mann in (fast) allem ähnlich, das ist echt interessant und manchmal ganz schön witzig. Das fällt z.B. bei den Essgewohnheiten auf. Oder wie er im Bett liegt, sich zudeckt, und schläft :))), das ist zum kaputtlachen, die perfekte Version meines Mannes in Miniatur-Form!

Und noch viele solche Sachen mehr, und mir kann keiner sagen, dass sei anerzogen... :zunge:.


LG

Heather
 
zwillinge sind auch die idealen probanten für die wissenschaft, um zu klären, was tatsächlich genetisch oder umweltbedingt ist.

um die gleiche genauigkeit der untersuchungsergebnisse zu erhalten muß man ca. 20 mal mehr personengruppen untersuchen wenn es sich nicht um zwillinge handelt.



grüße
richter
 
Zwillingsforschung
Späte Gene: Wie wir werden, was wir sind

Sie gleichen sich aufs Haar, haben den gleichen genetischen Code - eineiige Zwillinge. Die Wissenschaft interessiert sich schon lange für die familiären Doppelgänger. Aber wie ähnlich sind sie sich wirklich? Neueste Forschungsprojekte kommen zu verblüffenden Ergebnissen.
.....
Genforschung ist Zwillingsforschung
Doch woher kommen die Unterschiede? Eineiige Zwillinge sind ein genetischer Sonderfall. Ihr Erbgut, die DNA, ist identisch. Bei zweieiigen Zwillingen stimmt die DNA nur zu 50 Prozent überein. DNA-Forschung ist daher oft Zwillingsforschung. Um festzustellen, ob Krankheiten erblich bedingt sind, werden ein- und zweieiige Zwillingspärchen verglichen. Ist die Wahrscheinlichkeit für eineiige Geschwister, an der gleichen Krankheit wie Bruder oder Schwester zu leiden, deutlich höher als in der zweieiigen Vergleichsgruppe, dann ist die Krankheit erblich.

Gene werden im Alter wichtiger
Zwillingsforscher Professor Frank Spinath
Der Streit, was nun wichtiger sei, die Gene oder die Umwelt, schwelt schon lange in der Wissenschaft. Mittlerweile gehen viele Forscher davon aus, dass es sich hier um ein komplexes Zusammenspiel handelt. Ein erstaunliches Ergebnis liegt nun vor: Anders als anzunehmen wäre, spielen Gene mit zunehmenden Alter eine immer wichtigere Rolle, so der Psychologe Professor Frank Spinath von der Universität Saarbrücken: "Wir haben in Untersuchungen zur Intelligenzentwicklung zeigen können, dass die Gene im Laufe des Lebens wichtiger werden." Der Grund dafür liegt darin, dass für Kleinkinder die Familie, das enge familiäre Umfeld der entscheidende Referenzrahmen ist. "Mit dem Schuleintritt", so Spinath, "ändert sich das Bild. Die Familienumwelt wird wesentlich weniger wichtig und neben der Umwelt, also unterschiedliche Freunde, unterschiedliche Lehrer, wurden erstaunlicherweise genetische Einflüsse immer wichtiger."

Doppeltes Lottchen: Getrennte Zwillinge sind ähnlicher
Eineiige Zwillinge: Identische Gene, verschiedene Persönlichkeiten
Wachsen eineiige Zwillinge getrennt und ohne von einander zu wissen auf, dann werden sie sich mit zunehmenden Alter immer ähnlicher. Bei ihnen wirken die Gene dominanter. Bei eineiigen Zwillingen, die zusammenbleiben, ist hingegen die Umwelt von Anfang an wichtiger, sie unterscheiden sich stärker. Die Wissenschaftler gehen von einem "Kontrasteffekt" aus. Kinder, die sich extrem gleichen, wollen sich natürlich als Individuen von einander unterscheiden. Außerdem wachsen Zwillinge zwar zur gleichen Zeit im selben Mutterleib auf, aber nicht in der exakt gleichen Umwelt. So unterscheidet sich die Lage und die Nährstoffversorgung, das Geburtsgewicht und die Körpergröße.

Der Ältere dominiert
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Zwillingsforschung: Späte Gene: Wie wir werden, was wir sind | Wissen & Bildung | BR

In der Zwillingsforschung gab es auch schon zweifelhafte Forschung:

Das bedeutendste Beispiel eines Wissenschaftsbetrugs aus den Sozialwissenschaften dürften die Zwillingsuntersuchungen des Psychologen Sir Cyril Burt in den siebziger Jahren darstellen.
Die Zwillingsforschung war vor den Erfolgen der modernen Genomanalyse die zentrale Forschungsmethode der (Human-)Genetik. Sie beruht auf folgender Annahme: Eineiige Zwillinge haben nahezu übereinstimmende Erbanlagen, zweieiige Zwillinge hingegen unterschiedliche. Aus dem Vergleich der Persönlichkeitsmerkmale eineiiger und zweieiiger Zwillingspaare lassen sich Schlüsse über die Vererbbarkeit von Persönlichkeitsmerkmalen ziehen. Für die Wissenschaft von besonderem Interesse sind dabei getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge, weil hier der Einfluss einer gemeinsamen gleichen Umwelt wegfällt. An diesen seltenen genetisch identischen Zwillingen wollte Cyril Burt beweisen, dass für die Intelligenz eher die Vererbung massgeblich sei und weniger Umwelt und Erziehung. Burt publizierte zahlreiche Untersuchungen, welche mit der Methode der modernen mathematisch-statistischen Testpsychologie durchgeführt wurden und diese Annahme angeblich belegten. Er folgerte aus seinen Ergebnissen beispielsweise, dass jegliche Fördermassnahmen zugunsten lernschwächerer Schüler völlig sinnlos seien, zu fördern seien einzig die ohnehin stark Begabten. Cyril Burt hatte einen angesehenen Lehrstuhl für Psychologie am University College in London inne und war Herausgeber renommierter Zeitschriften, weshalb seine Forschungsergebnisse nicht angezweifelt wurden. Für seine Verdienste um die Wissenschaft und das englische Erziehungswesen wurde er zudem in den Adelsstand erhoben. Jahre nach seinem Tod entdeckte ein junger Nachwuchswissenschaftler die Unstimmigkeiten in Burts Untersuchungen. Die Übereinstimmung angeblich unabhängig voneinander gewonnenen Stichproben liess den Schluss zu, dass die Untersuchungsdaten zum grössten Teil erfunden waren. Ausserdem konnten weder die von Burt in seinen Publikationen aufgeführten Koautoren noch die Rohdaten seiner Untersuchungen gefunden werden. Der Fall des Sir Cyril Burt ist unter Psychologen bis heute umstritten. Die Mehrheit der community ist der Ansicht, dass Burt seine Untersuchungen zumindest teilweise frei erfand. Möglicherweise war Burt aber auch so sehr von der „Wahrheit“ seiner Theorie überzeugt, dass er empirische Tests im grösseren Umfang gar nicht für erforderlich hielt.
.....
BETRUG IN DER WISSENSCHAFT;

Uta
 
Hallo,

das ist wirklich ein sehr interessantes Thema.

Auch ich denke, dass schon einiges genetisch fest verankert ist und nicht durch Sozialisierung angeeignet wurde.

Z.B. gilt Legasthenie als erblich und ich kann nur bestätigen, dass mein Sohn das von der Linie meines Mannes geerbt hat. Mein Mann hat bei der Kindererziehung mangels häufiger Abwesenheit kaum Einfluss und das Training für die Schule obliegt ausschließlich mir.
Da die Talente meines Mannes und seiner ganzen Sippe im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich liegen, meine jedoch im sprachlichen, müssten meine Kinder im Falle von Prägung beide sehr sprachlich sehr gut sein oder?

Das ist aber nicht der Fall, beide haben Probleme in Diktaten und sind mir jetzt schon (6. Klasse) teilweise im mat.-nat. Bereich eindeutig überlegen, wenn es um Logik geht :).
Diese Konstellation erweist sich als sehr günstig, da mir gerade ihre Schwachpunkte sehr liegen und so das Üben optimiert werden kann. Aber es bestätigt nicht obige These.

Das von Anne angesprochene Phänomen mit verschiedenen Kindern trotz gleicher Eltern habe ich mal mit einer Psychologin diskutiert. Sie sagte, dass jedes Kind sich eine andere Nische suche, um den Eltern "zu gefallen oder eben gerade nicht". Schon deshalb seien unterschiedliche Charaktere bei Geschwistern auch ohne genetischen Hintergrund denkbar.
Eines benötigt z.B. Harmonie und passt sich daher schnell an, bemüht sich um gute Leistungen etc., ein Anderes, dem Lernen für Prüfungen vielleicht schwerer fällt, versucht sich durch Provokation Beachtung zu verschaffen. Das hängt ganz vom Naturell ab und u.U. welche Nische schon "besetzt" ist.

Meiner Ansicht nach kann das mit den Nischen schon stimmen, aber ich glaube doch, dass die Genetik stark beeinflusst, für welche Nische sich ein Kind entscheiden kann, weil sie eben seinem Naturell entspricht. Vermutlich hat man mehrere Möglichkeiten vom Genotyp her und je nach "Außenbedingungen" prägt sich eine besonders aus. Also wäre das eine Beteiligung von Umwelt und Genen an der Entwicklung des Charakters etc..

Außerdem behandeln Eltern nicht alle Kinder gleich, auch wenn sie es möchten. Die Grundwerte, die Eltern vermitteln, sind meist schon dieselben, aber die Behandlung oft nicht, da gibt es teilweise erschreckende Unterschiede.

Meine Schwiegermutter hat mal gesagt, sie hätte kein Mädchen großziehen mögen. Ihre drei Kinder können nur froh sein, dass sie allesamt Jungs waren, denn sie bevorzugt unseren Sohn ganz enorm und unsere Tochter wird oft von ihr gedemütigt, obwohl sie lieb und friedlich ist.
Solche ungleichen Behandlungen gibt es nicht nur bei Oma´s, sondern leider auch bei Eltern. Und dann vermitteln die Eltern nicht für alle Kinder die gleichen Werte!

So long
Claudia
 
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