Nun ich sehe die Herausforderung, die wir und unsere Eltern und die meisten anderen älteren Menschen mit ihrer Vergangenheit haben, sehr wohl.
Es liegt aber auch sehr oft mit daran, dass wir gar nichts oder zumindest nicht genug wissen von dem, was sie zu ihrer Zeit erlebt haben und welchen gesellschaftlichen Tabus, Regressionen, vorsintflutlichen und dummen Gesetzen, ihrer eigenen Unterdrückung in der Familie, Herzlosigkeit, erlebten Traumatas wie Hunger, Krieg, Vergewaltigung, Zwangsverheiratung oder Heirat aus praktischen und finanziellen Erwägungen der Familie, diese Personen in ihrer Jugend und in unserem Alter gegenüber standen.
Zum Beispiel ist es noch gar nicht so viele Jahre her, dass die Volljährigkeit auf 18 Jahre herunter gesetzt wurde und dass Missbrauch von Minderjährigen überhaupt geahndet und strafrechtlich verfolgt wird.
Vergewaltigung in der Ehe galt lange Jahrzehnte nicht als anklagefähig und die Person, die es dennoch wagte vor Gericht zu ziehen, musste zusätzlich noch schlimmste Beschimpfungen, Hohn, und Schimpf und Schande über sich ergehen lassen.
Bis ich glaube in die 70 er Jahre hinein wurde in der Schweiz eine werdende ledige Mutter in den Knast gesteckt und ihr Kind kam in ein Heim. Viele Zwangsehen sind dadurch auch entanden, die oftmals wieder misshandelte Kinder hervor brachten.
Kinder wurden zum Beispiel auch in Schweizer Bergdörfern den armen Bauern abgekauft und als Sklaven nach Italien verbracht.
In Deutschland war es da auch nicht viel besser.
Meine Mutter wurde 1957 mit meinem Halbbruder schwanger und sie war Single und als Hausmädchen in Stellung. Diese Leute waren noch gut zu ihr, aber mein Bruder kam trotzdem ins Heim bis meine Tante ihn adoptierte.
Ihre Schwester mit einem Wasserkopf nach einem Unfall wurde unter dem Verbrecherregime "euthanisiert", sie mussten aus dem Riesengebirge fliehen und ihre Mutter starb als meine Mutter 17 Jahre alt war.
Meine Schwiegermutter stand mit Säugling auf dem Arm dreimal vor der Wand und sollte im tscheschischen Ort Postelberg erschossen werden, weil dort auch regelrechter "Vergeltungsvölkermord" herrschte.
Sie flohen ebenfalls und mussten hier neu aufbauen während mein Schwiegervater noch im Krieg in Afrika war.
Irgendwie mussten alle diese Menschen mit ihrem Trauma leben und sich halbwegs durch ihr Leben bewegen.
Traumatherapien gab es keine, für niemanden.
Trost und Zuspruch waren eher die Ausnahme und so war ihr einziger Schutzmechanismus die Emotionsblockade und jeder, der versucht diese Mauer von seiner Seite aus einzureissen, wird automatisch und volle Kanne auf splitternde Härte treffen.
Wenn es überhaupt einen Weg gibt sich mit einer Person näher auseinander zu setzen, dann geht der ausschließlich über eine liebevolle, an der Person intensive Vertrauensbildung, so dass Sohn oder Tochter zu einem gleichwertigen Gesprächspartner wird und kein Kind mehr ist und dann erst kann man vielleicht langsam beginnen etwas vom Leben des anderen zu erfahren.
Diese Personen haben sich oft einen Teil seiner Seele emotional und mental völlig abgeschottet und luftdicht zugemauert um überhaupt überleben zu können.
Selbst Soldaten, die mit schweren Traumata aus den Kriegen zurück kamen hatten keine Hilfe gefunden, auch diese Notwendigkeit einer Traumatherapie wurde erst in den 70er Jahren überhaupt in Erwägung gezogen.
Die meisten von uns befinden sich mitten in dem größten Luxus, dass wir nicht um unser tägliches Überleben kämpfen müssen und zu einem Hungerlohn der nicht mal für eine Handvoll Reis härteste Arbeiten verrichten müssen.
Wir können auch dankbar dafür sein, dass wir keinen Krieg und keinen Hunger und keine großen Naturkatastrophen haben, die uns unsere Existenz richtig schwer machen.
Ebenso wissen wir es zu schätzen, dass wir unsere Meinung, auch die politische frei äußern dürfen, Reisen können wohin wir möchten, und es eine soziale Absicherung auch im Alter gibt,
Dass wir Autofahren können und keinen Schleier tragen müssen.
Ob wir studieren wollen oder nicht steht uns alles offen, genauso wie unsere freie Meinung und ob wir einen und wenn ja welchen Beruf wir ausüben wollen.
Wir werden nicht bereits als Säuglinge von unseren Eltern zwangsverheiratet, verkauft oder zur Prostitution gezwungen und sind auch keine Kindersoldaten geworden, die teils sogar ihre eigenen Eltern umbringen mussten.
Wir wurden nicht beschnitten, die Klitoris mit einer rostigen Rasierklinge entfernt und die Scheide bis auf ein winziges Loch durch das man mitunter nur tropfenweise pinkeln kann zugenäht -
natürlich unter schlimmsten seelischen und unhygienischsten Zuständen und ohne jede Betäubung.
Ich finde manchmal muss man sich einfach mal wieder vor Augen halten, welche Möglichkeiten wir heute haben und dass das weiß Gott nicht immer so wahr, sondern ganz anders und ich weiß ehrlich nicht, wie ich damals reagiert hätte wenn ich dieses Leben hätte leben müssen.
Ich bin dankbar für alles.
Manches verstehe ich auch nicht und es tut mir weh, aber es liegt nicht an mir darüber zu urteilen, jeder Mensch hat sich für dieses Leben seine Lernlektionen ausgesucht und wir können versuchen zu verstehen und vielleicht auch zu vermitteln, aber lernen müssen wir alle selber.
Liebe Grüße Tarajal