Widerstand der Gewöhnung

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"Warum in die Ferne schweifen, denn das Gute liegt so nah!"

So kam's mir an diesem Pfingstwochenende vor. Ich stand irgendwo in den Innerschweizer Alpen in der frischen Luft und fragte mich, warum viele Leute einen weiten Weg unter die Beine nehmen, um diesem Land zu entfliehen, auch nur für kurze Tage ... wenn es doch so schön ist. Warum stundenlang im Stau stehen, wenn ich schon so viel Schönes direkt um mich herum habe? Warum mir diesen Stress antun, wenn ich ja Erholung suche?
Wieviel kenne ich von meinem Land? Ist es nicht so, dass es soviel noch zu entdecken gibt für mich ... in meinem Land? Kennen allenfalls Touristen sogar meine eigene Stadt besser als ich? Das glaube ich sofort! Und so wollen die Leute vom Land ans Meer und die Leute vom Meer schwärmen von den Bergen.

Ja, das was man unmittelbar um sich herum hat, das blendet man mit der Zeit wohl aus. Wie ist das mit Beziehungen? Wie schnell nimmt man seinen Partner als gegeben hin ... sehen Männer anderen Frauen hinterher ... und Frauen den Männern? Und dann irgendwann merkt man plötzlich, das man das Beste ja direkt neben sich hat ... hoffentlich nicht wenn es schon zu spät ist, dies zu erkennen.

Wie schnell nehme ich auch meine Lebensumstände als gegeben hin, gewöhne mich an einen gewissen Lebensstandard und strebe weiter nach noch höheren Zielen? Und wie tief falle ich, wenn ich nur schon einen kleinen Schritt rückwärts statt vorwärts mache ... wenn es schon ein Rückschritt ist zu stagnieren?

Macht es glücklich, immer nach Besserem zu streben anstatt das zu geniessen, das man hat? Wieviel Ehrgeiz ist von Vorteil ... und ab welcher Grenze hängen wir nur noch hoch gesteckten, ständig veränderten Zielen hinterher, die uns glauben lassen, dass wir nicht das erreichen im Leben, das wir wollen?

Gruss, Marcel
 
Hallo Marcel,
Du hast ja wieder gleich mehrere Themen angeschnitten...
Mir geht es so, daß ich das Naheliegende, schon alltäglich Gewordene viel nehr wertschätze, wenn ich mal eine Weile (Stunden, Tage oder Wochen waren es bisher nur) woanders war. Ich bringe Anregungen mit, die ich zu Hause (auch bei intensivstem Fernseh-Konsum :) nicht bekommen hätte.
Allerdings nervt mich vor einer Reise oft der Gedanke an eine mehr oder weniger lange Fahrt. Manchmal gelingt es, mir diese Stunden auch schön und interessant zu gestalten, manchmal nicht so.
Das Streben nach immer mehr, "Besserem" und all den vielen Dingen oder Lebensweisen, die wir (noch) nicht haben, hält ja anscheinend unsere Welt in Schwung!?
Ich finde es schon wichtig, wenn jemand sich selbst hinterfragen kann oder merkt, welche Erkenntnis das eine oder andere Erlebnis für ihn oder sie mit sich bringt, wenn wir nur sehen wollen.
So wie Du beschrieben hast, daß Du gemerkt hast, daß es im Nahbereich auch sehr schön ist und Du das dann bewußt genießt.
Ob es eine Möglichkeit ist, auf die eigene Grenze zu achten, wann ich mich noch im Spiegel ansehen kann und wann nicht mehr bei dem was ich tue ode auch nicht tue?
Meine eigene Trödeligkeit hat mir einen Trick gezeigt, wie ich leichter feststellen kann, ob ich etwas "wirklich" brauche oder doch eher nicht: wenn ich z.B. den Kauf einer Sache um ein, zwei Tage oder auch Wochen hinaus schieben kann und dann merke, daß es gar nicht so schlimm ist, es noch nicht zu besitzen, ich womöglich schon vergessen habe, wie dringend ich das haben wollte, dann kann ich auch drauf verzichten. Diese Erkenntnis hätte mir wohl auch sofort kommen können, aber so hoch entwickelt bin ich eben nicht. Also muß ich mich in diesem Bereich meines Tricks bedienen; aufschrieben, was ich z.B. kaufen möchte - und es dann vergessen. Klappt durchaus.
Ich denke, die meisten Menschen kommen irgendwann in eine Lebensphase, in der es für sie nicht mehr so linear vorangeht, wie sie das evt. mal als erstrebens- und lebenswert gelernt haben. Und es gibt verschiedene Möglichkeiten, damit umzugehen - kämpfen, resignieren, neue Wege suchen, sich zurückziehen, eine Pause einlegen, Hilfe annehmen usw. usf.
Und das zu genießen, was vorhanden oder uns gegeben ist, ist doch auch nicht uz verachten.
Herzliche Grüße - Jontev
 
Natürlich ist genau das der Motor für die Wirtschaft. Menschen, die sich mit nichts zufrieden geben und immer wieder auf das neuere, bessere, schönere, schnellere, grössere, kleinere ... was auch immer warten, die kurbeln gehörig die Wirtschaft an. Aber inwiefern verschafft das wirklich Befriedigung. Und wo ist die Grenze zwischen dem, das man anstreben und dem, das man schätzen sollte?

Wie kann ich etwas schätzen, wenn ich schon was anderes anstrebe? Und inwiefern werde ich mich immer an Ort und Stelle bewegen, wenn ich eben nichts weiter anstrebe? Wie schnell bin ich unglücklich, weil ich etwas anstrebe, das ich nicht kriege ... und sollte doch glücklich sein, bei dem was ich habe?

Gruss, Marcel
 
Dass sich der Mensch unvollkommen fühlt und daher nach Mitteln und Wegen sucht, die ihn diese Unvollkommenheit vergessen, oder zumindest geringer erscheinen lassen dürfte mit der Möglichkeit zur Selbstreflektion zusammenhängen. Eine geistige Fähigkeit, die uns von den meisten unserer irdischen Mitbewohner unterscheidet. Man sieht sich im Kontext mit der Umwelt und stellt (bewusst oder unbewusst) Vergleiche an, daraus ergibt sich eine Selbsteinschätzung.

Das Streben nach "mehr" dürfte sich vor allem aus evolutorischen Gründen herausgebildet haben, da ein solches Verhalten anderen Lebewesen gegenüber einen Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil verschafft. Es setzt sich entwicklungsgeschichtlich betrachtet nicht der genügsame sondern der erfolgreichere durch, weil letzterer Lernen und Erkenntnis vorantreibt.

Diese Verhaltensstrategien sind Grundlage unseres Handelns, Denkens und Fühlens.
Warum sind wir hier in diesem Forum? Weil wir uns selbst so nicht genug sind - es geht eben besser, gesünder, glücklicher, problemloser denken wir uns und haben wahrscheinlich sogar recht. Wir kämpfen für unsere Gesundheit und machen uns damit erstens selbst glücklicher, zweitens attraktiver für Partner und werden wahrscheinlich auch länger leben, als solche, die ihre (gesundheitlichen) Probleme einfach hinnehmen.

"Die Wirtschaft" ist ja im Endeffekt ein System bestehend aus uns. Das Wirtschaftssystem strebt nach Profit und meidet (finanziellen/materiellen) Verlust. Es ist wahr, dass sich das Wirtschaftssystem dabei häufig der eben beschriebenen (psychologischen, sozio-kulturellen) Mechanismen bedient, um in uns Begehrlichkeiten zu wecken. Oft ist Konsum daher ein Ersatz für nicht bewältigte Probleme, bzw. dient als kurzfristige "Droge", die Erleichterung verschafft.
Ein neuer BMW in der Garage fühlt sich gut an, wird aber etwaige (Penisgrößen)komplexe nicht beseitigen können. ;)

Ob jemand mit sich und seinem Leben glücklich ist, hängt glaube ich von verschiedenen sehr individuellen Faktoren ab. Wenn man einem leidenschaftlichen Wissenschaftler sagt, er dürfe ab sofort nicht mehr lesen und forschen, würde dieser Mensch aller Vorraussicht nach sehr unglücklich werden, denn sein prägendes Lebensmotiv ist Neugierde und die will befriedigt werden. Das gleiche gilt für einen Sportler, der sich plötzlich nicht mehr bewegen darf etc.

Glück ist meiner Auffassung nach sehr individuell und demnach gibt es keine starre Glücklichkeitsformel.

Es stimmt dabei absolut, dass wir uns häufig von Dingen entfernen und deren Wert verlernen zu schätzen, da wir uns an sie gewöhnt haben und sie als selbstverständlich betrachten. Das beginnt mit dem frischen Wasser, das zu jeder Zeit aus der Leitung kommt, das sind beleuchtete Straßen, ein Rechtssystem, Döner rund um die Uhr, die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben, die Schönheit der Heimat und häufig eben auch Menschen, die uns nahe stehen.
Was dann hilft sind Perspektivenwechsel. Denn nur wenn man Dinge aus einem anderen Winkel betrachtet, die Distanz zu ihnen ändert, kann man sie wieder neu entdecken und sie neu schätzen lernen.

Manchmal hilft da eben ein Urlaub am Mittelmeer in Spanien, um festzustellen, dass es in Bottrop doch am schönsten ist. oder eben nicht, und dann hat man sich zumindest eine neue Perspektive eröffnet.
 
In der Evolution mag der Genügsame gegenüber dem Neugierigen benachteiligt sein ... wenn wir davon ausgehen, dass die Neugierde nicht so weit geht, dass sich die Neugierigen dabei gleich selbst dezimieren.

Aber jetzt kommt's auf den Blickwinkel an: Betrachtet man das aus der Sicht der Forschung, Wissenschaft, Wirtschaft etc. dann sind die Genügsamen natürlich ein Unding.
Aber wie steht's mit jedem einzelnen? Wer ist der glücklichere Mensch? Ohne ins Detail zu gehen erinnere ich mich einfach an meine Einsicht, dass in den Ländern, die ich besuchte, welche von uns aus wirtschaftlicher Sicht als Entwicklungsländer bezeichnet werden ... die Menschen immer viel glücklicher aussahen als hier.
Warum? Die hatten viel weniger ... und ebenso wenig Aussicht auf "bessere" Zeiten.
Als ich noch kein Handy hatte, musste ich mich nicht rumärgern, dass ich oft keinen Empfang oder sonstige technische Probleme hatte. Genauso mit dem Computer und dem Palm etc. Ich hatte andere Probleme. Aber könnte ich sagen, dass diese Probleme summiert grösser waren als meine jetzigen? Es sind einfach andere?
Wenn ich ein neues Betriebssystem lade und frage, ob ich dann weniger Probleme habe, dann wird mir geantwortet: "nein, nicht weniger ... aber andere". Manchmal wünschte ich mir, ich hätte mir nie einen Computer angeschafft ... weil ich dann um die ganzen Probleme rumgekommen wäre. Ob ich dieses technische Hilfsmittel heute missen könnte steht auf einem anderen Blatt.

Aber beantwortet mir doch mal die Frage, weshalb wir Urlauber in einem Entwicklungsland nicht so glücklich aussehen wie die Bewohner dieses Landes, das wir als arm und unterentwickelt abstempeln.

Gruss, Marcel
 
Ich möcht mit mit einem Beispiel beginnen;

Als junger "Töfflibueb" hat mich der Kino Klassiker "Easy Rider" mit Peter Fonda sehr begeistert. Nachdem ich den Film schon das fünfte mal gesehen hatte, keimte in mir der Wunsch, auch einmal diese grenzenlose Freiheit zu erleben. Die Strasse war ja da und für das entsprechende Motorrad fehlte das Geld.
Über dreissig jahre lang hielt ich die Wunschbilder in meinem Hinterkopf gespeichert und harrte der Dinge, da andere Sachen wichtiger waren als meine Tagträume.
Eines Tages war es dann soweit, kurz entschlossen bestellte ich "meinen" Motorrad, schob ohne Reue ein kleines Vermögen über den Ladentisch und sechs Monate später stand ich vor meinem Traum.
Diese sechs Monaten waren einer meiner glücklichsten Zeiten. Meine Partnerin hat es genossen, wie ich richtiggehend afgeblüht war. Immer gut gelaunt und einer Vorfreude wie ein kleines Kind.
Auf der nach Hause Fahrt, mit meinem Traum, kam ich in ein schlimmes Gewitter. In der heimischen Garage angekommen und bis auf die Unterhosen durchnässt, hatt mich fast der Schlag getroffen. Mein Traum, vorhin noch Chromblitzend, jetzt sah es aus wie ein Motocrosstöff nach einer Schlammschlacht, hätte weinen können.

Heute, nach einigen Jahren und einigen Tausend kilometern ist es schon fast alltäglich geworden, der Traum ist verblasst und der Alltag hat schon lange einzug gehalten.

Wenn mich heute jemand fragt, Traum oder Realität, was mir lieber wäre. Ganz eindeutig der Traum, da gibt es keine Wolkenbrüche, keine gemeinen Insekten die sich wie Kamikaze in mein Gesicht stürzen, nur Genuss pur!!

Nun zu Deiner Frage Marcel: In den Entwicklungsländern leben die Menschen auf einer so niedrigen Armutsstufe, dass Sie nichts mehr zu verlieren haben. Wir, die reichen Touristen machen es Ihnen vor wie es unter Umständen sein könnte. Die Menschen leben Ihre Wunsch und Tagträume aus und das macht Sie glücklich und zufrieden. Irgend einmal, hoffen Sie, werden auch Sie in schönen Kleidern, in teuren Autos daherkommen und in prunkvollen Villen hausen.
Wir, Urlauber haben eigentlich schon einiges erreicht, all zu überschwängliche Wünsche haben wir nicht mehr, auf jeden Fall keine die unsere Existenz tangieren würden, und somit sind wir mit unserem materiellem Besitz verbunden und tragen Sorge es nicht zu verlieren. Ich habe noch nie gehört, dass einem Armen etwas gestohlen wurde, aber umgekehrt schon fast täglich und diese Aussicht wird auch den fröhlichsten Touristen nicht heiter stimmen.
Im übrigen ist ein Land aus unserer Perspektive arm und unterentwickelt, weil unser Land zu einen der Reichsten gehört. Die Sammelorganisationen nutzen das aus, um unser schlechtes Gewissen in klingende Münzen zu verwandeln.

Gruss, Michael
 
Aber auch in unserem Land gibt es grosse Unterschiede zwischen Reichen und Armen. Und wenn hier einem Armen der grosse Lifestyle vorgeführt wird, dann vergeht ihm doch eher das Lachen, oder? Er hat ebenfalls vieles nicht, das er somit auch nicht verlieren kann. Da trifft ihn in seiner Armut, die unter dem liegt, was in diesem Land die "Mitte" wäre wohl alles doppelt, was sogar über dieser Mitte liegt.

Da gibt es den Satz, dass es anderen Menschen in anderen Ländern ja viel schlechter gehe.
Aber es gibt auch den Satz, wieso man sich immer an denen messen muss, denen es schlechter geht ... und nicht an denen, welchen es besser geht.

Gruss, Marcel
 
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