Mit nostalgischen Gefühlen lese ich wieder durch die Seiten dieses Buches. Wieviele Jahre und Ausgaben - zwanzig alleine in den USA? - in allen europäischen Sprachen, auf holländisch, griechisch, ja sogar persisch und japanisch, liegen dazwischen? Wieviele Jahre sind seit jenem Abenteuer der Seele vergangen? Sicherlich hatte mein Leben etwas Magisches, durfte ich doch zehn Jahre in Montagnola verbringen, in der alten Casa Camuzzi, die einst auch Heim von Hermann Hesse war. Ein Herrschaftshaus, gebaut im barocken St. Petersburger Stil von einem der Architekten des Goldenen Hügels, mit all seinen zu den Alpengipfeln und dem Luganersee ausgerichteten Balkonen und Terrassen, und der Sicht auf den Garten von Klingsor. Es war das Ziel vieler Pilger aus Ost und West, die im Gepäck eine Ausgabe von Der hermetische Kreis mit sich führten, in deutscher, öfters aber noch in englischer Sprache. Sie alle wiederholten Schritt für Schritt die Pilgerreise, die ich vor mehr als zwanzig Jahren gemacht hatte. Und plötzlich, ohne es zu ahnen, sahen sie sich dem Verfasser dieser Seiten gegenüber, der ihr Führer wurde, sie an seinen Tisch setzte, ihnen Wein zu trinken gab und Unterkunft anbot, genau so, wie es Hesse vor vielen Jahren mit mir gemacht hatte, einem damals jungen Pilger, der vom Südpolarkreis kam, mit nicht viel mehr als einem ersten, gerade veröffentlichten Buch als Empfehlungsschreiben: Weder über Meer, noch über Land.
Inzwischen waren viele Dinge geschehen. Die Straßen in Montagnola waren längst asphaltiert, und die Pilger, die auf ihnen gingen, waren auch anders. Fast alle hatten Hermann Hesse durch eine selbstsüchtige Propaganda für einen verfälschten Hinduismus kennengelernt, oder durch die Drogenkultur. Ich versuchte, ihnen klar zu machen, daß Hermann Hesse anders war, daß man ihn benutzt und verfälscht hatte. Natürlich wußte ich, daß mein Unterfangen nicht sehr erfolgreich sein konnte und ich nur wenige Leute retten konnte, bevor sich eine ganze Generation in den Abgrund stürzte. Die Erinnerung an Ninon Hesse, der Ehefrau des Autors, gab mir Kraft für meine Bemühungen. Allerdings hatte sie mir in unserem letzten Interview gestanden, daß sie etwas den Mut zum Weiterkämpfen gegen die Verfälschung von Hesse verloren hatte. Sie erzählte mir, daß Leute einer kanadischen Fernsehanstalt sie besucht und gebeten hatten, ein Drehbuch zu Der Steppenwolf zu schreiben. Sie hatte abgelehnt, weil Hesse in seinem Testament ausdrücklich dagegen war, daß seine Werke verfilmt würden. Ninon hatte auch Schwierigkeiten mit den Kindern des Autors. Zu Hesses Lebzeiten wurden seine Anweisungen getreu befolgt, dies änderte sich aber nach seinem Tode.
Eines Tages in Montagnola besuchte mich der Sohn von Hermann Hesse, Heiner, in Begleitung einiger nordamerikanischer Filmemacher, darunter auch derjenige, der Ulysses von James Joyce verfilmt hatte. Heiner Hesse hatte ihnen die Erlaubnis gegeben, Der Steppenwolf zu verfilmen. Sie wollten meine Meinung dazu hören. Ich fragte Heiner nach dem Testament seines Vaters und erinnerte mich an die Worte von Ninon. Er wußte von dieser Verfügung, erklärte mir aber, es gäbe eine Klausel, die sagte: "Wenn eines seiner Kinder sich in einer finanziellen Notlage befände, könne die Zustimmung zu einem Filmprojekt gegeben werden". Ich fragte ihn, ob er sich in einer solchen Lage befände. Er verneinte dies und meinte dazu, er würde es machen, "um der Jugend zu helfen". Sie gaben mir das Drehbuch und baten mich nach einigen Tagen um meine Meinung.
Ich las das Buch und fand, zu meiner Überraschung, längere Textpassagen, in denen der Hauptdarsteller von Der Steppenwolf das Nazitum verschmäht, die in der Originalausgabe gar nicht vorhanden waren. Ich wies in unserer nächsten Begegnung darauf hin, und erinnerte mich mit Entsetzen an die Antwort: "Diese Textstellen sind notwendig, weil das nordamerikanische Publikum im kulturellen Gepäck von Hermann Hesse die gleiche Tradition sieht, die das Nazitum in Deutschland begründete." Das war erschreckend. Selbstverständlich lehnte ich diese Fälschung wie überhaupt das ganze Filmprojekt ab. Aber selbstverständlich wurde der Film, nachdem eine Zahlung von US $ 70 000 an Heiner Hesse erfolgt war, gemacht. Er war ein absoluter Reinfall.
Das völlige Fehlen von Scham und Respekt der Nordamerikaner und der Medien, ihre Kulturlosigkeit, brachte sie dazu, die Verbindung eines deutschen - sehr deutschen sogar! - Schriftstellers zu den Wurzeln seiner Nationalität trennen zu wollen, um ihn nach ihrem eigenen Gutdünken zu benützen, ihn als Objekt zu benützen für die große Verschwörung der "weltweiten Aufdeckung", um es so zu formulieren, die alsdann begann und sich mit schwindelerregender Geschwindigkeit über den ganzen Planeten ausbreitete. Dazu verhalf zweifellos die allgemeine Unkultur, die von den USA aus propagiert und unterstützt wurde.
Zu dieser Zeit hatte mein Buch Der hermetische Kreis einen gewissen Ruhm erlangt und wurde vor allem von Jugendlichen, Leuten aus dem Universitätskreis, Psychiatern und Jungianern gelesen. Dies ging so weit, daß die Psychiatrische Gesellschaft von Australien mir eine vom Präsidenten und allen Mitgliedern unterzeichnete Glückwunschkarte schickte. Während einiger Jahre fanden in Montagnola oder unmittelbarer Nähe, von den Amerikanern unterstützte Symposien statt, an denen Universitätsprofessoren aus Europa und Amerika teilnahmen. Auch ich wurde eingeladen und durfte zwei Referate halten, eines über Nietzsche und die ewige Rückkehr - das später als Buch mit demselben Titel erschien. Ich hatte dieses Referat auch in Spanisch gehalten, an einer höheren Schule in Madrid und am Institut für spanische Kultur in Madrid und Barcelona, sowie an chilenischen Universitäten. Das zweite Referat trug den Titel Die Umwandlung von Hermann Hesse in den USA.
In diesem Referat verfocht ich weiterhin, daß Hesse in seinem tiefsten Gedankengut verfälscht und als ein Bohemier, ein Hippie, dargestellt worden war, als Anhänger der Drogenkultur, pazifistischer Vagabund (er war übrigens wirklich Pazifist), der die Freiheit über Disziplin und Lehrbuch stellt, und auf subtile Art Homosexualität andeutet, oder, wenn bevorzugt, Bisexualität. Ich wies nachdrücklich darauf hin, daß Hesse nicht verstanden werden kann, wenn man ihn von den Wurzeln der literarischen Tradition der deutschen Romantik trennt, von der Kette mit Novalis, Hölderlin, Kleist und von Nietzsche selbst, den er so sehr bewundert hatte. Hesse war die letzte Blume der deutschen Romantik und dem philosophischen Gedankengut, das mit Schopenhauer und Goethe selbst (einem Bewunderer von Shakunthala) die große Reise des Begreifens in Richtung Osten antrat. (Hermann Hesse hatte eine außergewöhnliche Studie über die deutsche Romantik geschrieben, die leider verschwunden und heute völlig unbekannt ist.) Unter dem Einfluß von C.G. Jung, bei dem er sich einer Psychoanalyse unterzog, verfiel er völlig dem germanisch-alchemistischen Traum der Androgyne - was das Gegenteil von Homosexualität ist -, dessen Sehnen nach Einheit und der Vereinigung der Gegensätze, der Einheit mit dem Selbst von Nietzsche, dem inneren Homo, dem coelo, Demian, geliebt und bewundert von Sinclair, d.h. von Hesse. Sein intimstes Ich. Narziß und Goldmund. In der deutschen Originalausgabe von Der Steppenwolf heißt die weibliche Darstellerin Hermina, das ist die weibliche Form von Hermann. Dies ist dasselbe alchemisch-tantrische Spiel wie in Mozarts Zauberflöte: Pamino und Pamina. Hermann Hesse versank, wieviele andere Deutsche der großen Tradition, in der Musik von Mozart und Bach.
Man hat versucht, Hesse zu einem Produkt der Konsumgesellschaft zu machen, durch ihn die Riten und Rechtgläubigkeit derselben verbreiten zu lassen.
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