Hermann Hesse

Dorfkirchhof

So nahe lieget ihr beisammen
In eurem Garten, stille Schar.
Von eures Lebens grellen Flammen
Loht keine mehr. Das Glockenläuten
Will euch nicht Leid noch Lust bedeuten
Noch Anklang dessen, was einst war.

Euch ist genug, daß in den Lüften
Hoch über euch der Flieder blüht
Und Sommernachts mit warmen Düften
Ob eurer Stätte festlich glüht.
Was noch in euch als Kraft, Begierde
Und unerlöster Drang gelebt,
Ist nun erlöst und frei und schwebt
Im Duft dahin als Spiel und Zierde.

(Hermann Hesse)
 
Verfrühter Herbst

Schon riecht es scharf nach angewelkten Blättern
Kornfelder stehen leer und ohne Blick;
Wir wissen: eines von den nächsten Wettern
Bricht unserm müden Sommer das Genick.

Die Ginsterschoten knistern. Plötzlich wird
Uns all das fern und sagenhaft erscheinen,
Was heut wir in der Hand zu halten meinen,
Und jede Blume wunderbar verirrt.

Bang wächst ein Wunsch in der erschreckten Seele:
Daß sie nicht allzu sehr am Dasein klebe,
Daß sie das Welken wie ein Baum erlebe,
Daß Fest und Farbe ihrem Herbst nicht fehle.

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Globetrotter

Wieder mit geraffter Schleppe
Eine fremde blasse Frau
Auf der steilen Landungstreppe,
Und dahinter kühl und blau
Fremder Himmel, Meeresweite,
Möwenflug und frischer Wind,
Felsgebirge steil zur Seite,
Das im Licht verrinnt.

Wartend stehn wir am Geländer,
Niemand, der uns Abschied winkt,
Fahnen wehn und Farbenbänder,
Grelle Blechmusik erklingt.

Taue fallen - sieh, wir fahren!
Und das lichte Land entweicht,
Frische Seeluft in den Haaren
Und im Schleier streicht.

Unten klingen Heimatlieder,
Hundert helle Tücher wehn;
Ohne Lächeln sehn wir wieder,
Was wir oft gesehn.

Kellner eilen, Sprachen schwirren,
Flüche drohen, Schlösser klirren;
Dort verstauen die Matrosen
Das Gepäck der Heimatlosen.

(Hermann Hesse)

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Ich hoffe, wir hatten das noch nicht:

Julikinder
Wir Kinder im Juli geboren
Lieben den Duft des weißen Jasmin,
Wir wandern an blühenden Gärten hin
Still und in schwere Träume verloren.

Unser Bruder ist der scharlachene Mohn,
Der brennt in flackernden roten Schauern
Im Ährenfeld und auf den heißen Mauern,
Dann treibt seine Blätter der Wind davon.

Wie eine Julinacht will unser Leben
Traumbeladen seinen Reigen vollenden,
Träumen und heißen Erntefesten ergeben,
Kränze von Ähren und roten Mohn in den Händen.

Mai 1904
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Schwarzwald

Seltsam schöne Hügelfluchten,
Dunkle Berge, helle Matten,
Rote Felsen, braune Schluchten,
Überflort von Tannenschatten!

Wenn darüber eines Turmes
Frommes Läuten mit dem Rauschen
Sich vermischt des Tannensturmes,
Kann ich lange Stunden lauschen.

Dann ergreift wie eine Sage
Nächtlich am Kamin gelesen
Das Gedächtnis mich der Tage,
Da ich hier zu Haus gewesen.

Da die Fernen edler, weicher,
Da die tannenforstbekränzten
Berge seliger und reicher
Mir im Knabenauge glänzten.

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Der Schmetterling

Mir war ein Weh geschehen,
Und da ich durch die Felder ging,
Da sah ich einen Schmetterling,
Der war so weiß und dunkelrot,
Im blauen Winde wehen.

O du! In Kinderzeiten,
Da noch die Welt so morgenklar
Und noch so nah der Himmel war,
Da sah ich dich zum letztenmal
Die schönen Flügel breiten.

Du farbig weiches Wehen,
Das mir vom Paradiese kam,
Wie fremd muß ich und voller Scham
Vor deinem tiefen Gottesglanz
Mit spröden Augen stehen!

Feldeinwärts ward getrieben
Der weiß’ und rote Schmetterling,
Und da ich träumend weiterging,
War mir vom Paradiese her
Ein stiller Glanz geblieben.
 
Der Nobelpreis für Literatur - 1946
Verleihungsrede von Anders Österlin, ständiger Sekretär der schwedischen Akademie
Majestät, Exzellenzen, meine Damen und Herren,
der Nobelpreis ist einem Schriftsteller zuerkannt worden, der auf allen Gebieten, denen er sich zuwandte, berühmt geworden ist, einem Schriftsteller deutschen Ursprungs, der geschaffen hat, ohne sich um die Gunst des großen Publikums zu kümmern. Der heute neunundsechzig Jahre alte Hermann Hesse kann auf eine bedeutende Produktion von Romanen, Novellen und Gedichten verweisen, die zum Teil ins Schwedische übertragen worden sind. Er ist einer der ersten deutschen Schriftsteller gewesen, der sich vom Einfluß der Politik freimachte, indem er sich schon vor dem Ersten Weltkrieg in der Schweiz niederließ und 1924 die Schweizer Staatsangehörigkeit erwarb. Es muß insoweit jedoch bemerkt werden, daß Hermann Hesse sich im Hinblick auf Herkunft und persönliche Verbundenheit bereits in seiner Jugend ebenso als Schweizer wie als Deutscher betrachten konnte. Als Bürger eines Landes, das zu den neutralen Schutzmächten Europas gehörte, durfte er sich seiner bedeutenden literarischen Aufgabe in verhältnismäßiger Ruhe hingeben, und die Ereignisse haben mit ihrer Entwicklung gezeigt, daß er hinfort neben Thomas Mann als der würdigste Verwalter des deutschen kulturellen Erbes innerhalb der zeitgenössischen Literatur gelten darf.

Mehr noch als bei den meisten anderen Schriftstellern müssen bei Hermann Hesse seine persönlichen Voraussetzungen ins Auge gefaßt werden, damit ein Begriff von den in der Tat erstaunlichen Elementen seiner Natur entstehen kann. Er entstammt einer streng pietistischen schwäbischen Familie; sein Vater war ein angesehener Kenner der Kirchengeschichte; seine Mutter, die Tochter eines Missionars schwäbischer Herkunft und einer Welschschweizerin, war in Indien aufgewachsen. Selbstverständlich wurde der Sohn zum Theologen bestimmt und als Gymnasiast in das Seminar von Maulbronn geschickt. Er entfloh von dort, ging als Lehrling zu einem Uhrmacher und später als Buchhändlergehilfe nach Tübingen und Basel. Seine jugendliche Auflehnung gegen die Familienfrömmigkeit, eine Religiosität, die er gleichwohl sein Leben lang im Grunde des eigenen Wesens barg, erneuerte sich mit der Heftigkeit einer schmerzhaften inneren Krise, als er - ein gemachter Mann und bekannter Schriftsteller in seinem Vaterland - im Jahre 1914 neue Wege beschritt, die sich weit von den bisherigen idyllischeren Gefilden entfernten.

Im Grunde kann man zwei Motive anführen, die den plötzlich eintretenden, völligen Wandel in Hermann Hesses Werk bestimmten. Zunächst natürlich der Weltkrieg......
Nobelpreisrede deutsch

Und hier das ganze auf Englisch: Nobelpreisrede engl.
 
Hermann Hesse ein ADSH - Kinde?

Eine interessante, neue Sichtweise findet sich hier:

ADSH (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom mit Hyperaktivität)

Hermann Hesse , ein beispielhafter Fall ?

......Die folgende Dokumentation soll nicht den Dichter Hesse herabsetzen, aber die
idealisierenden Interpretationen seiner schon in der Kindheit beginnenden
Auseinandersetzungen mit seiner Umwelt in die harte Realität zurückholen. Sie
soll die ungeheure Spannung und typische Gefährdungen der Menschen
aufzeigen, die an dieser Krankheit leiden; aber auch hinweisen auf die
Probleme derer, die im Umfeld dieser Menschen leben, sie erziehen, sie
ertragen und oft auch unter ihnen zu leiden haben.
Und sie soll den Betroffenen, Eltern, Erziehern und Freunden Mut machen, das
komplizierte Leben zu meistern.....
https://www.hhesse.de/media/files/adsh.pdf
Herzliche Grüße von Leòn
 
Wanderschaft

Im Walde blüht der Seidelbast,
Im Graben liegt noch Schnee;
Daß du mir heut geschrieben hast,
Das Brieflein tat mir weh.

Jetzt schneid ich einen Stab im Holz,
Ich weiß ein ander Land,
Da sind die Jungfern nicht so stolz
Der Liebe abgewandt.

Im Walde blüht der Seidelbast,
Kein Brieflein tut mir weh,
Und was du mir geschrieben hast,
Schwimmt draußen auf dem See,
Schwimmt draußen auf dem Bodensee,
Ja draußen auf dem See.

Mein Seidelbastgedicht ist in Gaienhofen geschrieben. Dort ist, gegen Radolfzell hin, nahe dem Dorf Iznang, wo (Franz) Mesmer geboren ist, ein Stück sumpfiger Wald am See, wo es oft schon im Februar voll von Schneeglöckchen war, und wo ich immer auch den ersten Seidelbast fand, ich rieche ihn noch, so scharfsüß und lila im kahlen Gehölz.
(Aus einem Brief vom 30.4.1932 an Otto Hermann)

www.botgarden.uni-tuebingen.de/show_image.php?name=Daphne%20mezereum%201%20M.jpg
 
Das Leben, das ich selbst gewählt

Ehe ich in dieses Erdenleben kam
Ward mir gezeigt, wie ich es leben würde.
Da war die Kümmernis, da war der Gram,
Da war das Elend und die Leidensbürde.
Da war das Laster, das mich packen sollte,
Da war der Irrtum, der gefangen nahm.
Da war der schnelle Zorn, in dem ich grollte,
Da waren Haß und Hochmut, Stolz und Scham.

Doch da waren auch die Freuden jener Tage,
Die voller Licht und schöner Träume sind,
Wo Klage nicht mehr ist und nicht mehr Plage,
Und überall der Quell der Gaben rinnt.
Wo Liebe dem, der noch im Erdenkleid gebunden,
Die Seligkeit des Losgelösten schenkt,
Wo sich der Mensch der Menschenpein entwunden
als Auserwählter hoher Geister denkt.

Mir ward gezeigt das Schlechte und das Gute,
Mir ward gezeigt die Fülle meiner Mängel.
Mir ward gezeigt die Wunde draus ich blute,
Mir ward gezeigt die Helfertat der Engel.
Und als ich so mein künftig Leben schaute,
Da hört ein Wesen ich die Frage tun,
Ob ich dies zu leben mich getraute,
Denn der Entscheidung Stunde schlüge nun.

Und ich ermaß noch einmal alles Schlimme —
»Dies ist das Leben, das ich leben will!« —
Gab ich zur Antwort mit entschloßner Stimme.
So wars als ich ins neue Leben trat
Und nahm auf mich mein neues Schicksal still.
So ward ich geboren in diese Welt.
Ich klage nicht, wenns oft mir nicht gefällt,
Denn ungeboren hab ich es bejaht.
 
Zu einer Toccata von Bach

Urschweigen starrt .... Es waltet Finsternis ...
Da bricht ein Strahl aus zackigem Wolkenriß,
Greift Weltentiefen aus dem blinden Nichtsein,
Baut Räume auf, durchwühlt mit Licht die Nacht,
Läßt Grat und Gipfel ahnen, Hang und Schacht,
Läßt Lüfte locker blau, läßt Erde dicht sein.

Es spaltet schöpferisch zu Tat und Krieg
Der Strahl entzwei das keimend Trächtige:
Aufglänzt entzündet die erschrockne Welt:
Es wandelt sich, wohin die Lichtsaat fällt,
Es ordnet sich und tönt die Prächtige
Dem Leben Lob, dem Schöpfer Lichte Sieg.

Und weiter schwingt sich, gottwärts rückbezogen,
Und drängt durch aller Kreatur Getriebe
Dem Vater Geiste zu der große Drang.
Er wird zu Lust und Not, zu Sprache, Bild, Gesang,
Wölbt Welt um Welt zu Domes Siegesbogen,
Ist Trieb, ist Geist, ist Kampf und Glück, ist Liebe.

www.planet-wissen.de/pics/IEPics/intro_klima_wolken_g.jpg
 

Rückgedenken


Am Hang die Heidekräuter blühn,
Der Ginster starrt in braunen Besen.
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Wer weiß heut noch, wie flaumiggrün
Der Wald im Mai gewesen ?

Wer weiß heut noch, wie Amselsang
Und Kuckucksruf einmal geklungen ?
Schon ist, was so bezaubernd klang,
Vergessen und versungen.

Im Wald das Sommerabendfest,
Der Vollmond überm Berge droben,
Wer schrieb sie auf, wer hielt sie fest ?
Ist alles schon zerstoben.

Und bald wird auch von dir und mir
Kein Mensch mehr wissen und erzählen,
Es wohnen andre Leute hier,
Wir werden keinem fehlen.

Wir wollen auf den Abendstern
Und auf die ersten Nebel warten.
Wir blühen und verblühen gern
In Gottes großem Garten.
 
Wer gerne eine Hermann-Hesse-Ausstellung besuchen möchte - hier bieten sich Möglichkeiten:

März 2007
Ankündigung
NEU
012 Museo Hermann Hesse Montagnola/Lugano/Schweiz
"Die dunkle und wilde Seite der Seele" Hermann Hesse und sein Psychotherapeut Josef Bernhard Lang.
vom 15. September 2007 bis 15. Februar 2008

Ankündigung
NEU
011 "Eigensinn macht Spaß"
Klingspor-Museum Offenbach vom 29. August bis 14. Oktober 2007
Es handelt sich um die kooperative Wanderausstellung des Suhrkamp Verlags und des Hessischen Rundfunks.

www.hermann-hesse-sekundaerschrifttum.de/images/eigensinnmachtspa.jpg

Ankündigung
NEU
010 Das Haus der Träume. Hermann Hesse und Albert Welti.
Hermann Hesse Höri Museum in Gaienhofen am Bodensee
vom 15. Juli bis 7. Oktober 2007
Die Ausstellung wird Dokumente, Fotos und Bilder aus Privatbesitz umfassen, die zum Teil erstmals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Zur Ausstellung erscheint ein Katalog.

www.hermann-hesse-sekundaerschrifttum.de/images/19180000kalender200204bernerhausammelchenbuehl.jpg

www.hermann-hesse-sekundaerschrifttum.de/019f5f974c102e501/019f5f98cf0a97607/index.html
 
Am 6. September des Jahres 1911 besteigt Hermann Hesse in Begleitung seines Freundes, des Malers Hans Sturzenegger, in Genua die „Prinz Eitel Friedrich“ um nach Indien zu fahren, dem Land in dem seine Großeltern, sein Vater und seine Mutter im Missionsdienst tätig waren. In Wirklichkeit wird daraus aber keine Indienreise, sondern eigentlich eine Indonesienreise: Penang, Singapur, Sumatra, Borneo und Burma. Den Subkontinent berührt die dreimonatige Reisestrecke nur am Rand: Das Schiff legt zwar in Ceylon an, wo Hesse an Land geht, das buddhistische Heiligtum Kandy besucht und den höchsten Berg besteigt, aber aus dem Vorhaben, die Küste Malabars zu sehen, wird nichts. Die Bildungsreise in den fernen Osten fällt in eine Zeit der Neuorientierung: Bei seiner Familie in Gaienhofen, gerade war der dritte Sohn Martin geboren, fühlt sich Hesse zunehmend fremd und unwohl, Aufbruchstimmung und Wanderlust werden immer stärker. Er träumt vom Junggesellendasein. Doch wird die Indienreise zu einer Enttäuschung. Das idealisierte, von den Erzählungen seines Großvaters Hermann Gundert geprägte Indienbild findet er nicht. Er ist sogar angewidert von der Realität, der Hitze, dem Schmutz, dem Kolonialismus den sozialen Verhältnissen und auch vom devoten Wesen der Malaien. Nur die Chinesen nötigen ihm Respekt ab. Die Reise findet ihren ersten Niederschlag in dem 1913 erschienenen Buch Aus Indien. Jahre später bekennt Hesse, dass ihm in Ostasien weder die Begegnung mit Indien geglückt sei, noch habe er eine innere Befreiung erlebt. In einem Brief schreibt Hesse 1919: „Ich bin seit vielen Jahren davon überzeugt, dass der europäische Geist im Niedergang steht und der Heimkehr zu seinen asiatischen Quellen bedarf. Ich habe jahrelang Buddha verehrt und indische Literatur schon seit meiner frühesten Jugend gelesen. Später kamen mir Lao Tse und die andern Chinesen näher. Zu diesen Gedanken und Studien war meine indische Reise bloß eine kleine Beigabe und Illustration.“ Die eigentliche Frucht dieser Reise war für Hesse erst der 1922 erschienene Siddhartha.
Das Hermann Hesse-Portal

https://www.gss.ucsb.edu/projects/hesse/papers/baumann-indien.pdf
 
Abend auf dem Roten Meer

Von brennenden Wüsten her
Taumelt ein giftiger Wind,
Dunkel wartet das wenig bewegte Meer,
Hundert hastige Möwen sind
Durch die heiße Hölle unsre Begleiter.
Blitze reißen kraftlos am Himmelsrand,
Keines Regens Wohltat kennt dieses verfluchte Land.

Drüber aber steht licht und heiter
eine friedliche Wolke allein;
Die hat uns Gott dahin gestellt,
Daß wir nicht länger trostlos sein
Und einsam leiden mögen in dieser Welt.

Niemals will ich die Öde unermessen
Und diese brütende Hölle vergessen,
Die ich am heißesten Ort der Erde fand;
Daß aber drüber die lächelnde Wolke stand,
Soll mir ein Trost sein für die lastende Schwüle,
Die ich in meines Lebens Mittag mir nahen fühle.
 
Hallo Malve,

schön dass Du gerade dieses Gedicht hierher gestellt hast. Spiegelt es doch ein ganz klein wenig Hesses "Weltbürgertum" wider, was sich ja auch in seiner literarischen Rezeption niedergeschlagen hat. Und er hat 1946 mit "Eine Bibliothe der Weltliteratur" einen weltliterarischen Kanon vorgelegt. Aus seiner Sicht:

Hesses Lesewelt
Artikel von Keith Murray
am 17.07.2001

So wie Marcel Reich-Ranicki hat auch Hermann Hesse einen Leitfaden zu lesenswerter Literatur geschrieben.

Vor kurzem hat der Kritiker Marcel Reich-Ranicki seinen "Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke" im Magazin "DER SPIEGEL" vorgelegt. Dieser Kanon ist "für den Unterricht" gedacht und schließt Romane, Erzählungen, Gedichte, und andere Stücke vom Mittelalter über die Romantik und den Realismus bis zum Modernismus ein.

Reich-Ranicki gibt zu bedenken, dass jeder Kanon seine eigene Epoche und deren Auffassungen spiegele. Der Fan von Hermann Hesse mag auch an Hesses eigenen Kanon denken, der erst 1946 unter dem Titel "Eine Bibliothek der Weltliteratur" veröffentlicht worden ist. Obwohl "niemand jemals die gesamte Literatur auch nur eines einzigen großen Kulturvolles völlig durchstudieren und kennenlernen könnte, geschweige denn die der ganzen Menschheit" ist Hesses Kanon sehr viel umfassender angelegt als der Reich-Ranickis. Hesse schenkt in seinem Kanon, der unter anderem gedacht ist für den, der "mit dem Aufbau einer eigenen Bücherei beginnt", der ganzen Weltliteratur Beachtung.

Einen besonderen Stellenwert in Hesses Kanon nimmt die Literatur des nahen und fernen Ostens ein, an die er durch seine Eltern und Großeltern gekommen ist. Zu einer Bücherei gehören laut Hesses Essay eine Auswahl aus den Upanishaden sowie eine Auswahl aus den Reden des Buddha, und danach folgen z.B. der "Gilgamesh," die Gespräche des Konfuzius, die Märchensammlung "Tausendundeine Nacht" und eine Auswahl aus der klassischen chinesischen Lyrik.

Aber auch die eruropäische Literatur hat vieles zu bieten: An alter Literatur nimmt Hesse "vor allem" die zwei epischen Gedichte Homers auf, vergisst aber auch nicht die Tragiker Äschylus, Sophokles, und Euripides. Unter den Römern schätzt Hesse nicht nur Horaz, Vergil, und Ovid, sondern auch Tacitus, Petronius, und Augustin. Besonders wertvoll aus dem Mittelalter findet Hesse zum Beispiel das "Dekameron" von Giovanni Boccaccio (1313-1375), Dantes "Göttliche Komödie," die Sonette von Petrarca und die Gedichte von Michelangelo sowie die Heldensagen von der Tafelrunde des Königs Artus.

Doch damit nicht genug: Denn auch französische Autoren haben viel Lesenswertes geschrieben, besonders zu berücksichtigen sind Villon, Montaigne, Rabelais, Pascal, Molière, Voltaire, Rousseau, Stendhal, Baudelaire, und Balzac. Und auch Chaucer, Shakespeare, Swift, Defoe, Shelley, Keats, Thackeray, Dickens, und Wilde, die englischen Vertreter ihrer Zunft, sind nicht zu verachten. Dann stehen noch Cervantes, Villegas, und Calderon - alle spanisch - im Kanon und Gogol, Puschkin, Turgenieff, Tolstoi, und Dostojewskij, alle russisch. Hesse nimmt auch Werke aus anderen Ländern auf, zum Beispiel die Gedichte des Amerikaners Walt Whitman, die Märchen des Dänen Hans Christian Andersen, und einige Theaterstücke des Norwegers Henrik Ibsen.

Am Ende kommt Hesse zu der deutschen Literatur, die er "mit besonderer Liebe" betrachtet. Natürlich befinden sich im Kanon die Dichter, die Hesse immer gelobt hat: Hölderlin, Novalis, Brentano, und E.T.A. Hoffmann. Von Johann Wolfgang Goethe nimmt Hesse die Gedichte, "Die Leiden des jungen Werther," "Novelle," "Faust," die Gespräche Eckermanns und einige Briefe auf. Was Luther, Schiller, Kleist, Chamisso, Droste-Hülshoff, Mörike, und Keller angeht, sind sich Hesse und Reich-Ranicki einig: Deren Werke tauchen in beider Kanones auf.

Wie gesagt, jeder derartige Kanon ist ein Produkt seiner Epoche. Oft hat Hesse auf spezifische Werke und Dichter verzichtet, weil es damals noch keine deutsche Übersetzungen gegeben hat. Auch fehlt in Hesses Kanon verständlicher Weise das ganze zwanzigste Jahrhundert - und nicht nur deutsche Schriftsteller wie Mann, Grass, und Hesse selbst, sondern auch Joyce, Proust, und Hemingway. Aber lassen Sie sich von Hesses "Eine Bibliothek der Weltliteratur" begeistern, oder um es in Hesses eigenen Worten zu sagen: "Ehe die Meisterwerke sich an uns bewähren, müssen wir uns erst an ihnen bewährt haben."
Hesses Lesewelt - hhesse.de - Das Hermann Hesse-Portal der Morgenlandfahrer
 
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Ich sehn mich so nach einem Land
der Ruhe und Geborgenheit.
Ich glaub, ich habs's einmal gekannt,
als ich den Sternenhimmel weit
und klar vor meinen Augen sah,
unendlich großes Weltenall.
Und etwas dann mit mir geschah:
Ich ahnte, ich spürte auf einmal,
das alles: Sterne, Berg und Tal,
ob ferne Länder, fremdes Volk,
sei es der Mond, sei's Sonnenstrahl,
daß Regen, Schnee und jede Wolk,
daß all das in mir drin ich find,
verkleinert, einmalig und schön.
Ich muß gar nicht zu jedem hin,
ich spür das Schwingen, spür die Tön'
ein's jeden Dinges, nah und fern,
wenn ich mich öffne und werd still
in Ehrfurcht vor dem großen Herrn,
der all dies schuf und halten will.
Ich glaube, das war der Moment,
den sicher jeder von euch kennt,
in dem der Mensch zur Lieb bereit:
Ich glaub, da ist Weihnachten nicht weit!

Hermann Hesse
 
Glück

Solang du nach dem Glücke jagst,
Bist du nicht reif zum glücklich sein,
Und wäre alles Liebste dein.

Solang du nach Verlorenem klagst
Und Ziele hast und rastlos bist,
Weisst du noch nicht, was Friede ist.

Erst wenn du jedem Wunsch entsagst,
Nicht Ziele noch Begehren kennst,
Das Glück nicht mehr mit Namen nennst,
Dann reicht dir des Geschehens Flut
Nicht mehr ans Herz - und deine Seele ruht.
 
Chinesisch

Mondlicht aus opalener Wolkenlücke
Zählt die spitzen Bambusschatten peinlich,
Malt der hohen Katzenbuckelbrücke
Spiegelbild aufs Wasser rund und reinlich.

Bilder sind es, die wir zärtlich lieben,
Auf der Welt und Nacht lichtlosem Grunde
Zaubrisch schwimmend, zaubrisch hingeschrieben,
Ausgelöscht schon von der nächsten Stunde.

Unterm Maulbeerbaum der trunkene Dichter,
Der den Pinsel wie den Becher meistert,
Schreibt der Mondnacht, die ihn hold begeistert,
Wehende Schatten auf und sanfte Lichter.

Seine raschen Pinselzüge schreiben
Mond und Wolken hin und all die Dinge,
Die dem Trunkenen vorübertreiben,
Daß er sie, die flüchtigen, besinge,
Daß er sie, die Zärtliche, erlebe,
Daß er ihnen Geist und Dauer gebe.

Und sie werden unvergänglich bleiben.
 
Kopflos

Man nehm den Deckel nur vom Topfe
Und sieh, wie froh der Dampf entweicht!
Wie lebt nach abgeschnittnem Kopfe
Das schwere Leben sich so leicht!
Kein Schnupfen mehr, kein Nasentropfen,
Kein Zahnweh und kein Augenbrand
Noch Stirnkatarrh noch Schläfenklopfen,
Es ist wie im Schlaraffenland.
Zwar gibt es ohne Kopf kein Denken,
Doch ist es darum nicht so schad,
Man kann mit Wein die Kehle tränken,
Es ist das beste Gurgelbad.
Und ach, wie lebt es sich so stille:
Kein Wort, kein Lärm, kein grelles Licht!
Und nie mehr sucht man seine Brille
Und nie mehr macht man ein Gedicht.
 
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