Herbst-Gedichte

Herbst

Daß ich so oft...

Daß ich so oft mit leisem Leid
Durch die begrünten Äcker gehe
Und in den Lüften hoch und weit
Die hellen Wolken fahren sehe,

Und daß ich stehen bleiben muss,
Wo Kinder sind in einem Garten,
Und lange still auf einen Gruß
Und auf ein liebes Lachen warten,

Und daß ich nicht mehr neidisch bin
Auf fremden Ruhm, auf fremdes Brot,
Und daß ich so zufrieden bin, -
Ist das schon Herbst? Ist das schon Tod?

(Hermann Hesse)

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Herbst

Hallo Uta,

footbell - das war mir nicht aufgefallen. Wenn ich das richtig verstehe, in dem Zusammenhang, handelt es sich bei "footbells" um eine herbstliche Glockenblumenart. Die andere Bedeutung (am Fuß getragene Glöckchen, percussions) passt ja nicht so richtig ... .
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Die Zauberei im Herbste

Josef Freiherr von Eichendorff


Aus der Kluft treibt mich das Bangen,
Alte Klänge nach mir langen -
Süße Sünde, laß mich los!
Oder wirf mich ganz darnieder,
Vor dem Zauber dieser Lieder
Bergend in der Erde Schoß!

Gott! Inbrünstig möcht ich beten,
Doch der Erde Bilder treten
Immer zwischen dich und mich,
Und ringsum der Wälder Sausen
Füllt die Seele mir mit Grausen,
Strenger Gott! ich fürchte dich.

Ach! So brich auch meine Ketten!
Alle Menschen zu erretten,
Gingst du ja in bittern Tod.
Irrend an der Hölle Toren,
Ach, wie bald bin ich verloren!
Jesus, hilf in meiner Not!

Über gelb und rote Streifen
Ziehen hoch die Vögel fort.
Trostlos die Gedanken schweifen,
Ach! sie finden keinen Port,
Und der Hörner dunkle Klagen
Einsam nur ans Herz dir schlagen.

Siehst du blauer Berge Runde
Ferne überm Walde stehn,
Bäche in dem stillen Grunde
Rauschend nach der Ferne gehn?
Wolken, Bäche, Vögel munter,
Alles ziehet mit hinunter.

Golden meine Locken wallen,
Süß mein junger Leib noch blüht -
Bald ist Schönheit auch verfallen,
Wie des Sommers Glanz verglüht,
Jugend muß die Blüten neigen,
Rings die Hörner alle schweigen.

Schlanke Arme zu umarmen,
Roten Mund zum süßen Kuß,
Weiße Brust, dran zu erwarmen,
Reichen, vollen Liebesgruß
Bietet dir der Hörner Schallen,
Süßer! komm, eh sie verhallen!


https://gutenberg.spiegel.de/eichndrf/herbst/herbst.htm

Herzliche Grüße von

Leòn
 
Herbst

Herbst

von Heinrich Seidel

Der Dichter singt, wenn auch die Blätter fallen,
Wenn nach des Sommers Ueberschwenglichkeiten
Beginnt die Zeit der Unzulänglichkeiten,
Und Büchsen bei des Horns Geschmetter knallen.

Der Dichter singt, und um so netter schallen
Die goldnen Reime, wenn Bedenklichkeiten
Ob aller irdischen Vergänglichkeiten
Sich gleich dem düstren Sturmeswetter ballen.

Der Dichter singt, wenn alle Lieder schweigen,
Wenn zu des Südens ew'gem Sonnenbrande
Die Nachtigallen ihr Gefieder neigen.

Der Dichter singt, und seine Reime klingen:
Er sieht aus Hypokrenes Bronnensande
Zu jeder Zeit die Liederkeime dringen!



Aus:

Reimkunststücke
aus der Mappe des lyrischen Dichters Johannes Köhnke,
wirklichen Mitglieds des "Allgemeinen deutschen Reimvereins".
 
Herbst

Georg Trakl

Musik im Mirabell

Ein Brunnen singt. Die Wolken stehn
Im klaren Blau, die weißen, zarten.
Bedächtig stille Menschen gehn
Am Abend durch den alten Garten.

Der Ahnen Marmor ist ergraut.
Ein Vogelzug streift in die Weiten.
Ein Faun mit toten Augen schaut
Nach Schatten, die ins Dunkel gleiten.
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Das Laub fällt rot vom alten Baum
Und kreist herein durchs offne Fenster.
Ein Feuerschein glüht auf im Raum
Und malet trübe Angstgespenster.

Ein weißer Fremdling tritt ins Haus.
Ein Hund stürzt durch verfallene Gänge.
Die Magd löscht eine Lampe aus,
Das Ohr hört nachts Sonatenklänge.




Im Herbst
Die Sonnenblumen leuchten am Zaun,
Still sitzen Kranke im Sonnenschein.
Im Acker mühn sich singend die Frau’n,
Die Klosterglocken läuten darein.

Die Vögel sagen dir ferne Mär’,
Die Klosterglocken läuten darein.
Vom Hof tönt sanft die Geige her.
Heut keltern sie den braunen Wein.

Da zeigt der Mensch sich froh und lind.
Heut keltern sie den braunen Wein.
Weit offen die Totenkammern sind
Und schön bemalt vom Sonnenschein
 
Herbst

Herbstlied

Bunt sind schon die Wälder,
Gelb die Stoppelfelder,
Und der Herbst beginnt.
Rote Blätter fallen,
Graue Nebel wallen,
Kühler weht der Wind.

Wie die volle Traube,
Aus dem Rebenlaube,
Purpurfarbig strahlt!
Am Geländer reifen
Pfirsiche mit Streifen
Rot und weiß bemalt.

Sieh! Wie hier die Dirne
Emsig Pflaum’ und Birne
In ihr Körbchen legt!
Dort, mit leichten Schritten,
Jene goldne Quitten
In den Landhof trägt!

Flinke Träger springen,
Und die Mädchen singen,
Alles jubelt froh!
Bunte Bänder schweben,
Zwischen hohen Reben,
Auf dem Hut von Stroh!

Geige tönt und Flöte
Bei der Abendröte
Und im Mondenglanz
Junge Winzerinnen
Winken und beginnen
Deutschen Ringeltanz.

(Johann Gaudenz von Salis-Sewis (1762-1834)

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Herbst

Traurige Tänze
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Stefan George

Des erntemondes ungestüme flammen
Verloschen · doch sie wirken in uns beiden ·
Nach kurzer trennung schritten wir zusammen
Am alten flusse mit den neuen leiden.

Zum ersten male strittest du darüber ·
Ich selber konnte dir nicht mehr erklären
Warum die stürm- und wintertage trüber
Warum die frühlingslüfte froher wären.

Du streichest zürnend über deine locken
Da ich dich heute schon so ruhig finde . .
Ich klage fast: sind meine tränen trocken ·
Die tränen fern von Lilia dem kinde ?

Der raum mit sammetblumigen tapeten
- So waren sie zur zeit der ahnin mode -
An meinem arme bist du eingetreten.
Nun reden wir vom guten tode.

Die starren eisesranken an den Scheiben
Entrücken uns den weiten wo wir gingen ·
Des herdes flammen zuckend sich umschlingen ·
Vor ihnen lass uns eine weile bleiben.

- So glaubst du fest dass auch das spiel der musen
Ihm den sie liebten niemals wieder freue -
Und ist das reiche licht in deinem busen
Auch ganz erloschen ? sag es mir in treue !

Es lacht in dem steigenden jahr dir
Der duft aus dem garten noch leis.
Flicht in dem flatternden haar dir
Eppich und ehrenpreis.

Die wehende saat ist wie gold noch ·
Vielleicht nicht so hoch mehr und reich ·
Rosen begrüssen dich hold noch ·
Ward auch ihr glanz etwas bleich.

Verschweigen wir was uns verwehrt ist
Geloben wir glücklich zu sein ·
Wenn auch nicht mehr uns beschert ist
Als noch ein rundgang zu zwein.

Gib ein lied mir wieder
Im klaren tone deiner freudentage -
Du weisst es ja : mir wich der friede
Und meine hand ist zag.

Wo dunkle seelen sinnen
Erscheinen bilder seltne hohe ·
Doch fehlt das leuchtende erinnern ·
Die farbe hell und froh.

Wo sieche seelen reden
Da lindern schmeichelhafte töne
Da ist die stimme tief und edel
Doch nicht zum sang so schön.

Das lied das jener bettler dudelt
Ist wie mein lob das dich vergeblich lädt ·
Ist wie ein bach der fern vom quelle sprudelt
Und den dein mund zu einem trunk verschmäht.

Das lied das jene blinde leiert
Ist wie ein traum den ich nicht recht verstand ·
Ist wie mein blick der nur umschleiert
In deinen blicken nicht erwidrung fand.

Das lied das jene kinder trillern
Ist fühllos wie die worte die du gibst ·
Ist wie der Übergang zu stillern
Gefühlen wie du sie allein noch liebst.

Drei weisen kennt vom dorf der blöde knabe
Die wenn er kommt sich ständig wiederholen :
Die eine wie der väter hauch vom grabe
Die eh sie starben sich dem herrn befohlen.

Die andre hat die tugendhafte weihe
Als ob sie Schwestern die beim spinnrad sassen
Und mägde sängen die in langer reihe
Vor zeiten zogen auf den abendstrassen.

Die dritte droht - Versündigung und rache -
Mit altem dolch in himmel-blauer scheide ·
Mit mancher sippe angestammtem leide ·
Mit bösen Sternen über manchem dache.

Stätte von quälenden lüsten
Wo ihr gestrandet seid -
Lass deine sonnigen küsten ·
Folge dem strengen bescheid !

Mach dass dein ruder erstarke
Langsam ohne gefahr
Schaukelt dann deine barke
Fort mit dem sinkenden jahr.

Nicht vor der eisigen firnen
Drohendem rätsel erschrick
Und zu den ernsten gestirnen
Hebe den suchenden blick !

Die wachen auen lockten wonnesam ·
Im veilchenteppich kam sie an das gitter
Geschmückt wie jährig für den bräutigam
Und dachte sein bis nach dem fest der Schnitter.

Nur eine lerche die im haine schlug
Bemerkte ihr erröten und erschrecken
Und wie in sommer-langer tage zug
Sie sann und welkte bei den eiben-hecken.

Von ihrer schlanken anmut spricht allein
Bei perlenschnüren eine seidne locke
Die eine fromme freundin birgt im schrein . .
Und schlichtes gras mit einem marmorblocke.

Da kaum noch sand im stundenglase läuft
So zieh ihm nach dem wandrer tau-beträuft ·
Die heisse luft verwehte ihn geschwind ·
Den freund der blumen und der Sterne kind ·

Der eines morgens vor dem schnitt der saat
Die hände traurig vor die stirne tat
Und durch wer weiss welch frühen fluch gemahnt
Im heut den lezten jugendtag geahnt ·

Der durch kein sonnenschmeicheln mehr erweicht
Solang er schön war ohne klage leicht
Gleich einem sommervogel überm ried
An jenem tag aus unsren kreisen schied.

Trauervolle nacht!
Schwarze sammetdecke dämpft
Schritte im gemach
Worin die liebe kämpft.

Den tod gab ihr dein wunsch ·
Nun siehst du bleich und stumm
Sie auf der bahre ruhn ·
Es stecken lichter drum.

Die lichter brennen ab ·
Du eilest blind hinaus
Nachdem die liebe starb -
Und weinen schallt im haus.

Wir werden nicht mehr starr und bleich
Den früheren liebeshelden gleich ·
An trübsal waren wir zu reich ·
Wir zucken leis und dulden weich.

Sie hiessen tapfer · hiessen frei
Trotz ihrer lippen manchem schrei ·
Wir litten lang und vielerlei
Doch schweigen müssen wir dabei.

Sie gingen um mit schwert und beil ·
Doch streiten ist nicht unser teil ·
Uns ist der friede nicht mehr feil
Um ihrer guter weh und heil.

Ich weiss du trittst zu mir ins haus
Wie jemand der an leid gewöhnt
Nicht froh ist wo zu spiel und schmaus
Die saite zwischen säulen dröhnt.

Hier schreitet man nicht laut nicht oft ·
Durchs fenster dringt der herbstgeruch
Hier wird ein trost dem der nicht hofft
Und bangem frager milder spruch.

Beim eintritt leis ein händedruck ·
Beim weiterzug vom stillen heim
Ein kuss - und ein bescheidner schmuck
Als gastgeschenk : ein zarter reim.

Dies leid und diese last: zu bannen
Was nah erst war und mein.
Vergebliches die arme spannen
Nach dem was nur mehr schein ·

Dies heilungslose sich betäuben
Mit eitlem nein und kein ·
Dies unbegründete sich sträuben ·
Dies unabwendbar-sein.

Beklemmendes gefühl der schwere
Auf müd gewordner pein ·
Dann dieses dumpfe weh der leere ·
O dies : mit mir allein !

Nicht ist weise bis zur lezten frist
Zu geniessen wo vergängnis ist.
Vögel flogen südwärts an die see ·
Blumen welkend warten auf den schnee.

Wie dein finger scheu die müden flicht!
Andere blumen schenkt dies jahr uns nicht ·
Keine bitte riefe sie herbei ·
Andre bringt vielleicht uns einst ein mai.

Löse meinen arm und bleibe stark ·
Lass mit mir vorm scheidestrahl den park
Eh vom berg der nebel drüber fleucht ·
Schwinden wir eh winter uns verscheucht!

Keins wie dein feines ohr
Merkt was tief innen singt ·
Was noch so schüchtern schwingt
Was halb sich schon verlor.

Keins wie dein festes wort
Sucht so bestimmt den trost
In dem was wir erlost ·
Des wahren friedens hort.

Keins wie dein fromm gemüt
Bespricht so leicht den gram . .
Der eines abends nahm
Was uns im tag geglüht.

Mir ist kein weg zu steil zu weit
Den ich nicht ginge - mein geleit -
Mit dir · uns ängstet keine kluft
Und sühne steht auf jeder gruft.

So kreuzen wir in wehmut nur
Der freudlos grauen aschen flur
Mit ihrem dürren gras und dorn ·
Doch rein von reue rein · von zorn.

Mein feuchtes auge späht nur fern
Nach diesem einen aus der gern
Die harfe reich und wohl gestimmt
Der unsre goldne harfe nimmt.

Die stürme stieben über brache flächen
Und machen heller ahnung voll die runde ·
Da wollen sich erstickte fluren rächen ·
Da zittert seufzen aus dem bergesschlunde.

Es scheint als ob die schrecklich fernen grollen
Doch eine stimme mahnt aus friedensföhren :
Hast du mir ehdem nicht versprechen sollen
Der gräber ruh mit klage nie zu stören !

Ich zog vorbei am winterlichen pfahle
Vor dem wir nie in leerem weinen knieten ·
Ich bat dich nur der bald ihn sieht dem strahle
Des frohen lenzes meinen gruss zu bieten.

Geführt vom sang der leis sich schlang
Dir ward er leicht der ufergang.
Ich sah der höhen dichten rauch
Verjährtes laub und distelstrauch.

Dein auge schweift schon träumerisch
Auf eine erde gabenfrisch ·
Denn dein gedanke flattert fort
Voraus zu einem sichern hort.

Ich frage noch: wer kommt wenn sanft
Die gelbe primel nickt am ranft
Und sich das wasser grün umschilft
Der mir den mai beginnen hilft ?

Entflieht auf leichten kähnen
Berauschten sonnenweiten
Dass immer mildre tränen
Euch eure flucht entgelten.

Seht diesen taumel blonder
Lichtblauer traumgewalten
Und trunkner wonnen sonder
Verzückung sich entfalten.

Dass nicht der süsse schauer
In neues leid euch hülle -
Es sei die stille trauer
Die diesen frühling fülle.

Langsame stunden überm fluss ·
Die welle zischt wie im verdruss
Da von dem feuchten wind gefrischt
Ein schein bald blendet bald verwischt.

Wir standen hand in hand am Strand
Da sah sie ähren in dem sand ·
Sie trat hinzu und brach davon
Und fand auf diesen tag den ton :

Beginnend klang er hell und leicht
Wie von dem ziel das wir erreicht ·
Dann ward er dumpfer als sie sang
Vom fernen glück - wie bang ! wie lang !

Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten ·
Indes der drüben noch im lichte webt ·
Der mond auf seinen zarten grünen matten
Nur erst als kleine weisse wolke schwebt.

Die strassen weithin-deutend werden blasser
Den wandrern bietet ein gelispel halt ·
Ist es vom berg ein unsichtbares wasser
Ist es ein vogel der sein schlaflied lallt ?

Der dunkelfalter zwei die sich verfrühten
Verfolgen sich von halm zu halm im scherz . .
Der rain bereitet aus gesträuch und blüten
Den duft des abends für gedämpften schmerz.

Flammende wälder am bergesgrat ·
Schleppende ranken im gelbroten Staat!
Vor ihrem Schlummer in klärender haft
Hebst du die traube mit leuchtendem saft.

Lang eh sie quoll mit dem sonnigen seim
Brachtest du strauss und kranz mit heim
Und du begrüssest den lohnenden herbst
Da du von sommers schätzen erbst.

Ihm ward die frucht zum genuss nicht bestellt
Der sich nicht froh auch den knospen gesellt.
Fragst du ihn so sagt er dir: weil
Man mir nahm mein einzig heil. .

Der abend schwül · der morgen fahl und nüchtern
Sind ewiger Wechsel ihrer trüben reise ·
Sie ganz in tränen ganz in schmerz und schüchtern
Bestimmten die gezogenen geleise.

An hohen toren wo sie eintritt heische
Ist niemand der für ihre treue zeuge
Und keine hand die fleisch von ihrem fleische
Sich bis zu ihr herniederbeuge.

So wird sie bald ergriffen vom getöse
Bald kehrt sie um mit seiner schlimmen beute
Und so wie früher murmelt sie noch heute
Den spruch der nahend sie erlöse.

Ob schwerer nebel in den wäldern hängt:
Du sollst im weiterschreiten drum nicht zaudern
Sprich mit den bleichen bildern ohne schaudern
Schon regen sie sich sacht hinangedrängt.

Wenn gras und furche auf dem pfad versteinen ·
Gehäufter reif die wipfel beugt · versteh
Zu lauschen auf der winterwinde weh
Die mit den welken einsamkeiten weinen.

So hältst du immer wach die müde Stirn
Und gleitest nicht herab von steiler bösche
Ob auch das matt erhellte ziel verlösche
Und über dir das einzige gestirn.

Da vieles wankt und blasst und sinkt und splittert
Erstirbt das lied von dunst und schlaf umflutet
Bis jäher stoss das mürbe laub zerknittert ·
Von ehmals wilde wunde wieder blutet -

Bis plötzlich sonne zuckt aus nassen wettern ·
Ein schwarzer fluss die bleichen felder spreitet
Und seltne donner durch die froste schmettern. .
Es merkt nur in dem zug der grabwärts gleitet

Die fackeln zwischen den geneigten nacken ·
Der klänge dröhnen aus dem trauerprunke
Und sucht ob unter rauhen leides schlacken
Noch glimme ewig klarer freude funke.

Zu traurigem behuf
Erweckte stürm die flur ·
Aus finstrem tag entfuhr
Ein todesvogel-ruf.

Kaum zeigt der hügel rund
Der grauen stunden flucht ·
Ein baum tiefhängend sucht
Nach halmen überm grund.

Schon taucht die wüstenei
Zurück zum dunklen Schacht
Ein ton von qual und nacht
Bricht wie ein lezter schrei.

Ob deine augen dich trogen
Durch fallender äste hauf ?
Treiben die kämpfenden wogen
Den strom hinauf ?

Du jagest nach und sie steigen
Von fremden kräften erfasst ·
Wirbelndem rieselndem reigen
Folgt die begehrende hast.

Hüte dich ! führe nicht weiter
Das spiel mit schwerem kauf -
Ziehen nicht deine begleiter
Schon ihren alten lauf ?

Ihr tratet zu dem herde
Wo alle glut verstarb ·
Licht war nur an der erde
Vom monde leichenfarb.

Ihr tauchtet in die aschen
Die bleichen finger ein
Mit suchen tasten haschen -
Wird es noch einmal schein !

Seht was mit trostgebärde
Der mond euch rät:
Tretet weg vom herde ·
Es ist worden spät.

Wie in der gruft die alte
Lebendige ampel glüht!
Wie Ihr karfunkel sprüht
Um schauernde basalte !

Vom runden fenster droben
Entfliesst der ganze glanz ·
Von feuriger monstranz
Mit goldumreiften globen

Und einem weissen lamme -
Und wenn die ampel glüht
Und wenn ihr kleinod sprüht
Ist es von eigner flamme ?

Die jagd hat sich verzogen ·
Du bleibst mit trägem bogen ·
Blutspuren unter tannen -
Horch welch ein laut! von wannen ?

Das ist kein lärm der rüden ·
Kein schrei der flüchtig-müden ·
Du lauschst am grund beklommen ·
Sollst du entgegenkommen ?


Geboren am 12.07.1868 in Büdelsheim (Hessen), gestorben am 04.12.1933 in Minusio (bei Locarno). George war Sohn eines Gastwirts und Weinhändlers. Seit 1888 unternahm er Reisen durch Europa, hatte aber keinen festen Wohnsitz. Er studierte in Paris, Berlin, München und Wien. Er machte Bekanntschaft mit Mallarmé, Verlaine, Rodin und Hofmannsthal. Seit 1900 pflegte er eine strenge Lebensführung auf der Grundlage der Männerfreundschaft mit einer gleichgesinnten Elite. George ist ein bedeutender Lyriker der deutschen Neuromantik.

https://gutenberg.spiegel.de/autoren/george.htm

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Herbst

Johannes Trojan (1837-1915)



Herbst
Rot wird das Laub am wilden Wein;
die Luft geht schon so herbstlich kühl.
Das Eichhorn sagt: „Jetzt fahr ich ein;
schon lose sitzt die Nuss am Stiel.“
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Dem Sperling geht's nicht schlecht; er speist
den ganzen Tag, bald hier, bald dort. .
Er sagt: "Die Schwalb' ist schon verreist,
gut, dass sie fort! Gut, dass sie fort!"

Im Garten um den Rosenstrauch,
da klingt ganz anders das Gered'!
Ein Blümlein spricht: "Merkt ihr's nicht auch?
Es wird so trüb, so still und öd?

Das Bienchen flog doch sonst so flink
bei uns umher - wo ist es nun?
Weiß eines was vom Schmetterling?
Der hatt' sonst hier so viel zu tun."

Ein zweites sagt: "Eh man's gedacht,
kommt schon die Nacht und weilt so lang.
Wie lieblich war doch einst die Nacht!
Nun ist sie gar unheimlich bang.

Wie muss man warten morgens früh,
bis dass die Sonn' guckt übern Zaun!
Ach, und ganz anders wärmte sie,
als sie noch gern uns mochte schaun!"

Ein drittes drauf: "Mir sinkt der Mut;
der Morgentau, der ist so kalt!"
Die Spinne sagt: "Es wird noch gut!"
Ach, wenn's nur würd'! Und würd's doch bald!

Nur einmal noch so, wie es war,
nur ein paar sonn'ge Tage noch!
's wird nicht mehr viel - ich seh es klar;
und leben, leben möcht' man doch!

 
Herbst

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Jenseits des Tales


Von Börries von Münchhausen

www.doc-rollinger.de/pics/0510/zelte.jpg


Jenseits des Tales standen ihre Zelte,

zum roten Abendhimmel quoll der Rauch;

|:das war ein Singen in dem ganzen Heere,

und ihre Reiterbuben sangen auch.:|

www.touristik-club.de/gifs/marketenderin.gif

Sie putzten klirrend das Geschirr der Pferde,
es tänzelte die Marketenderin,
|:und unterm Singen sprach der Knaben einer:
"Mädchen, du weißt's, wo ging der König hin?":|

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Diesseits des Tales stand der junge König
Und griff die feuchte Erde aus dem Grund,
|:sie kühlte nicht die Glut der heißen Stirne,
sie machte nicht sein krankes Herz gesund.:|

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Ihn heilten nur zwei jugendfrische Wangen
und nur ein Mund, den er sich selbst verbot.
|:Noch fester schloß der König seine Lippen
und sah hinüber in das Abendrot.:|

www.zeltstadt.at/historische-zelte/ritterzelte/windsor_ansicht.jpg

Jenseits des Tales standen ihre Zelte,
zum roten Abendhimmel quoll der Rauch;
|:und war ein Lachen in dem ganzen Heere,
und jene Reiterbuben lachten auch.:

url

https://www.pwv-frankweiler.de/themen/lieder/jenseitsdestales.htm
 
Herbst

Das ist ja ein Kunstwerk geworden, Leòn. Irgendwie macht mich dieses Lied immer richtig traurig...

Uta
 
Herbst

Hallo Uta,
danke schön!

Ja, ich kann das verstehen, dass es Dich traurig stimmt ... In meiner Kindheit sangen das meine Tanten oft bei der Arbeit im Bindekeller. Vor allem in der "Totensonntagszeit".

Obwohl es mich immer sehr berührt hat, habe ich es mir damals stets wieder gewünscht.
Und ich kann den Text noch immer (fast) auswendig.

Später habe ich mal gelesen, dass Münchhausen mit dem Lied gewisse Neigungen ausdrücken und verschleiern wollte.... .

Herzliche Grüße von

Leòn
 
Herbst

Hallo uma,
uff, jetzt bin ich durch mit dem langen Gedicht von Stefan George!
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und fühle mich leicht verzaubert, gleichzeitig aber auch ermüdet.

Ich habe mal ein bißchen über St.G. nachgelesen: er war ja wohl ein ganz besonderer Dichter, der es u.a. verstanden hat,sich und seine Dichtung zu zelebrieren...

[...] In der Hauptsache ist der Symbolismus eine lyrische Bewegung, und man kann ihm das Verdienst nicht abstreiten, dass er die deutsche Lyrik formell, technisch und sprachlich, vor allem im Anschluss an Nietzsches Hymnik, aber auch an die koloristische und plastische Kunst des Auslandes erneuert hat, wenn auch kein grosser Lyriker, der für sein ganzes Volk etwas zu bedeuten hätte, aus ihm hervorgegangen ist. Jedenfalls bildet er - von seinen Anfängen in der Kunstzeitschrift "Pan" (1894 bis 1900) und den Münchner "Musenalmanachen" Otto Julius Bierbaums (seit 1893) an bis zu den 1899 hervortretenden, allerdings schon seit 1892 existierenden "Blättern für Kunst" [!] Stephan Georges - eine historisch sehr interessante, in sich abgeschlossene Entwicklung.

War die Natur Nietzsches eine Kreuzung aus Dionysos und Ahasver, die trotz aller Schmerzen die Ewigkeit, zu der sie verdammt war, lieben musste, eine wilde, tobende Natur, die lieber brüllte als seufzte oder zwitscherte, - so ist Stefan George (geboren 1868 in Büdesheim), der strenge Priester der Gelassenheit und Gebundenheit, der Verkünder asketischer Lüste, mass- und zuchtvoll. Auch er verkündet wie Nietzsche eine Kunst, die jenseits von Gut und Böse wirkt; er steht den moralischen Forderungen eines Teiles der jungen Generation ferner als fern.
"Du sprichst mir nicht von Sünde oder Sitte". In einem seiner ersten Gedichte versteigt er sich bis zur Apotheose der Ausschweifung: im Heliogabal. Aber immer reiner klärt sich seine Welt: bis das Jahr der Seele herrlich sichtbar wird, der Teppich des Lebens sich vor ihm breitet, der Engel ihm den Weg weist und der Stern des Bundes magisch erblinkt. Stefan George begann als Fackelträger des reinen Wortes in einer Zeit, die das Wort verunreinigte und beschmutzte, er schritt fort und schreitet weiter als ein Flammenträger des reinen Sinnes in einer Zeit, die verschwelt und rauchig loht, die Baal und Beelzebub betet, die kein Seelengold, nur ein Geldgold kennt, die alles "zweckmässig" einrichtet und als Ziel die Zweckmässigkeit postuliert oder die Ziellosigkeit an sich. Die geistige und moralische Begriffe verwechselt und ein politisches Parteiprogramm vom Spinozas Ethik nicht zu unterscheiden vermag. Sie hat auch bei George gebändigte Leidenschaft mit Temperamentlosigkeit, die Gebärde des echten Priesters mit den Tingeltangelalläuren ihrer geistigen Charlatane, die gekonnte Kunst mit gemachter Mache verwechselt. Sei´s. Die Weltgeschichte ist auch das Weltgedicht: einige der schönsten Strophen dieses Gedichtes hat Stefan George gesungen.
https://www.george-kreis.de/litgeschichte.htm

Diese Internetseite wurde errichtet von Einem, den ein Denkmal zu setzen für den Meister und seinen Kreis als brennende Sorge umwog, der Verdrängung anheim fallenden geistigen Bewegung, die von hier ausgegangen.

Es wird versucht, Vollständigkeit zu erreichen, doch will die Seite ausdrücklich nicht als literaturgeschichtliche Forschung als solche angesehen werden, da Dichtung, da Kunst nicht vom Forscher beurteilt werden kann.

Abheben möchte sie sich auch von stümperhafter Leere des Weltnetzes
https://www.george-kreis.de/

george3.jpg

Reinhold Lepsius, Holzschnitt 1900
https://www.wlb-stuttgart.de/archive/george1.htm

george_stefan.jpg

https://www.rheintal.de/index.php?id=146

Uta
 
Herbst

Blick nach Italien

Über dem See und hinter den rosigen Bergen
Liegt Italien, meiner Jugend gelobtes Land,
Meiner Träume vertraute Heimat.
Rote Bäume sprechen vom Herbst.
Und im beginnenden Herbst
Meines Lebens sitz ich allein,
Schaue der Welt ins schöne grausame Auge,
Wähle Farben der Liebe und male sie,
Die so oft mich betrog,
Die ich immer und immer noch liebe.
Liebe und Einsamkeit,
Liebe und unerfüllbare Sehnsucht
Sind die Mütter der Kunst;
Noch im Herbst meines Lebens
Führen sie mich an der Hand,
Und ihr sehnliches Lied
Zaubert Glanz über See und Gebirg
Und die abschiednehmende, schöne Welt.

(Hermann Hesse)

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Herbst


Welkes Blatt

Jede Blüte will zur Frucht,
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Jeder Morgen Abend werden.
Ewiges ist nicht auf Erden
als der Wandel, als die Flucht.

Auch der schönste Sommer will
einmal Herbst und Welke spüren.
Halte Blatt, geduldig still,
wenn der Wind dich will entführen.

Spiel dein Spiel und wehr dich nicht,
laß es still geschehen,
laß vom Winde, der dich bricht,
dich nach Hause wehen.

Hermann Hesse
(1877 - 1962)

 
Herbst

Georg Trakl

"Der Herbst des Einsamen"

Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle.
Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
Ein reines Blau tritt aus verfallner Hülle;
Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.
Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
Im roten Wald verliert sich eine Herde.
Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
Es ruht des Landmanns ruhige Gebärde.
Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.
Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
Und Engel treten leise aus den blauen
Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
Wenn schwarz der Tau tropft von kahlen Weiden


https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Herbst_des_Einsamen

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Herbst

Der scheidende Sommer

Das gelbe Laub erzittert,
es fallen die Blätter herab;
Ach, alles, was hold und lieblich,
Verwelkt und sinkt ins Grab.

Die Gipfel des Waldes umflimmert
ein schmerzlicher Sonnenschein;
Das mögen die letzten Küsse
des scheidenden Sommers sein.

Mir ist, als müsst ich weinen
aus tiefstem Herzensgrund;
Dies Bild erinnert mich wieder
an unsere Abschiedsstund'.

Ich musste von Dir scheiden,
und wusste, du stürbest bald;
Ich war der scheidende Sommer,
Du warst der kranke Wald

(Heinrich Heine)

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Herbst

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von Arnold Schönberg 1874 - 1951
www.usc.edu/libraries/archives/schoenberg/painting/exteriorhtms/ritter204.htm

Erich Kästner (1899-1974)

Exemplarische Herbstnacht

Nachts sind die Straßen so leer.
Nur ganz mitunter
markiert ein Auto Verkehr.
Ein Rudel bunter
raschelnder Blätter jagt hinterher.

Die Blätter haschen und hetzen.
Und doch weht kein Wind.
Sie rascheln wie Fetzen und hetzen
und folgen geheimen Gesetzen,
obwohl sie gestorben sind.

Nachts sind die Straßen so leer.
Die Lampen brennen nicht mehr.
Man geht und möchte nicht stören.
Man könnte das Gras wachsen hören,
wenn Gras auf den Straßen wär.

Der Himmel ist kalt und weit.
Auf der Milchstraße hat's geschneit.
Man hört seine Schritte wandern,
als wären es Schritte von andern,
und geht mit sich selber zu zweit.

Nachts sind die Straßen so leer.
Die Menschen legen sich nieder.
Nun schlafen sie, treu und bieder.
Und morgen fallen sie wieder
übereinander her.
 
Herbst

Jetzt ist es Herbst

Jetzt ist es Herbst,
Die Welt ward weit,
Die Berge öffnen ihre Arme
Und reichen dir Unendlichkeit.
Kein Wunsch, kein Wuchs ist mehr im Laub,
Die Bäume sehen in den Staub,
Sie lauschen auf den Schritt der Zeit.

Jetzt ist es Herbst,
das Herz ward weit.
Das Herz, das viel gewandert ist,
Das sich verjüngt mit Lust und List,
Das Herz muss gleich den Bäumen lauschen
Und Blicke mit dem Staube tauschen.
Es hat geküsst, ahnt seine Frist,
Das Laub fällt hin, das Herz vergisst.

Max Dauthendey
(1867 - 1918)

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Herbst

Johann Nepomuk Vogl 1802-1866 Wien


Ein Friedhofsgang

Beim Todtengräber pocht es an:
»Mach auf, mach auf, du greiser Mann!«

»Thu' auf die Tür' und nimm den Stab,
Mußt zeigen mir ein theures Grab!«

5 Ein Fremder spricht's mit strupp'gem Bart,
Verbrannt und rauh nach Kriegerart.

»»Wie heißt der Teure, der euch starb
Und sich ein Pfühl bei mir erwarb?««

»Die Mutter ist es, kennt ihr nicht
10 Der Marthe Sohn mehr am Gesicht?«

»»Hilf Gott, wie groß, wie braun gebrannt,
Hätt' nun und nimmer euch erkannt.««

»»Doch kommt und seht, hier ist der Ort,
Nach dem gefragt mich Euer Wort.««

15 »»Hier wohnt, verhüllt von Erd' und Stein,
Nun Euer todtes Mütterlein.««

Da steht der Krieger lang und schweigt
Das Haupt hinab zur Brust geneigt.

Er steht und starrt zum theuren Grab
20 Mit thränenfeuchtem Blick hinab.

Dann schüttelt er sein Haupt und spricht:
»Ihr irrt, hier wohnt die Todte nicht.«

»Wie schlöß' ein Raum, so eng' und klein
Die Liebe einer Mutter ein?!« -
 
Herbst

Regentage

Der scheue Blick an allen Enden
Stößt sich an grauen Wänden,
Und "Sonne" ist nur noch ein leeres Wort.
Die Bäume stehn und frieren naß und nackt,
Die Frauen gehn in Mäntel eingepackt,
Und Regen rauscht unendlich fort und fort.

Einst als ich noch ein Knabe war,
Da stand der Himmel immer blau und klar
Und alle Wolken waren goldgerändert;
Nun seit ich älter bin,
Ist aller Glanz dahin,
Der Regen rauscht, die Welt hat sich verändert.

Hermann Hesse

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Herbst

Ein bißchen anders von Tucholsky:

Colloquium in utero
Ein trüber Herbsttag im Mutterleib. Zwei Stück Zwillinge, Erna und Max, legen
sich bequem und sprechen leise miteinander.
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»Mahlzeit!«
»Mahlzeit! Na, gut geschlafen ... ?«
»Soweit man bei diesem Rummel schlafen kann – es sind bewegte Zeiten. Ich träume dann immer so schlecht.«
»Was hast du bloß?«
»Du bist gut! Was ich habe! Hier, hast du das gelesen, im Reichsverbandsblatt Deutscher Leibesfrüchtchen?«
»Nein. Was steht da?«
»Da steht: Warnung vor dem juristischen Studium. Fünfzigtausend Primaner legen die Reifeprüfung ab. Hundertunddreißigtausend stellenlose Akademiker, es kann auch eine Null mehr sein, ich kann das bei der Beleuchtung nicht so genau unterscheiden. Warnung vor dem Veterinär-Studium. Warnung vor Beschreitung der Oberförster-Laufbahn. Warnung ... und so geht das weiter.«
»Na und?«
»Na und ... du dummes Keimbläschen! Willst du mir vielleicht sagen, was man denn eigentlich noch draußen soll? Nun fehlt nur noch die Warnung vor einem Beruf!«
»Vor welchem?«
»Vor dem eines Deutschen. Aber, wenn das so weiter geht: ich bleibe hier.«
»Ich gehe raus.«
»Warum?«
»Weil es unsre Pflicht ist. Weil wir heraus müssen. Weil im Kirchenblatt für den Sprengel Rottenburg und Umgegend steht: Das Leben im Mutterleib ist heilig. Lieber zehn Kinder auf dem Kissen als eines auf dem Gewissen, steht da. Und die Präservativ-Automaten sind auch aufgehoben. Wir stehen, mein Lieber, unter dem Schutz der Staatsanwaltschaft und der Kirche!«
»Draußen?«
»Nö, draußen nicht. Bloß drin.«
»Na, da bleib doch hier!«
»Wir haben nur für neun Monate gemietet, das weißt du doch!«
»Es ist, um sich an dem eignen Nabelstrang aufzuhängen! Ich für mein Teil bleibe drin!«
»Du bleibst nicht drin. Sei froh, dass wir nicht dreie sind, oder vier, oder fünf, oder sechs ... «
»Halt! Halt! Wir sind doch nicht bei Karnickels!«
»Es ist alles schon mal dagewesen, Deutschland kann keine Kinder ernähren, nur Kartelle. Deutschland braucht Arbeitslose!«
»Ich bleibe drin.«
»Ich geh raus!«
»Du gehst nicht raus! Streikbrecher!«
»Pergamentfrucht!«
»Dottersack!«
(Gestrampel)
Die Mutter: »Was er nur hat –?«


Kaspar Hauser
Die Weltbühne, 22.03.1932, Nr. 12, S. 453.

 
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