Ethik in der Zahnheilkunde - Zahnentfernung

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23.02.11
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Kürzlich fielen mir alte Bücher zur Herderkrankung wieder in die Hand, die ich lange nicht angerührt hatte. Ich blätterte darin und fand in "Wurzelbehandlung und Herderkrankung" von Dr. med. Desider Hattyasy (Privatdozent für konservierende Zahnheilkunde an der Stomatologischen Klinik der Universität in Budapest) aus dem Jahre 1946 folgenden Absatz, den ich euch nicht vorenthalten möchte :).

Auf Patienten, die sich auf das Entfernen ihres kranken Zahnes versteifen und bei welchen die nötige Intelligenz zur Wertung der Arbeit des Zahnarztes fehlt, sollte man keinen Druck ausüben, sondern ihrem Willen zur Entfernung des Zahnes - falls keine Kontraindikation vorliegt - Genüge tun, unter gleichzeitiger Betonung der eigenen Auffassung. Die Pulpabehandlung ist auch bei scheinbar günstigen Vorbedingungen ein Eingriff, welcher einen gewissen Prozentsatz Versager besitzt. Garantieren sollte der Zahnarzt niemals den vollen Erfolg. Wer so einem Wunsche des Patienten nachgibt, handelt unrell. Eben deshalb ist die Extraktion auf Wunsch des Patienten kein Verstoß gegen die Ethik.

Die Zeiten haben sich geändert.
Die Extraktion eines kranken Zahnes auf Wunsch des Patienten gibt es so gut wie gar nicht mehr.
Wer sich auf eine Entfernung seines kranken Zahnes versteift, gehört wie damals nicht nur zum Kreis der Unintelligenten, sondern heute auch noch zum Kreis der psychisch Kranken und wird gar nicht erst behandelt.
Unabhängig von dem Wissen, dass auch heute noch Wurzelbehandlungen einen gewissen Prozentsatz an Versagern aufweisen.

Grüße von Anneke
 
Zuletzt bearbeitet:
In meinem ersten Beitrag ging es um Patientenwünsche - die Zahnextraktion. Der Wunsch ist jedoch eher selten, wie wir wissen ;) und auch verständlich. Die meisten Menschen wollen vor allem aus ästhetischen Gründen ihre Zähne behalten und schön sollen sie außerdem sein. Für die meisten Menschen sind Zähne eben ein Statussymbol.

An dieser Stelle Zitate aus einem bemerkenswerten Artikel von Giovanni Maio (Lehrstuhl für Bioethik, Interdisziplinäres Ethik-Zentrum Freiburg,
Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)

Die Zahnmedizin zwischen Heilkunde und Beauty-Industrie
Zu den ethischen Unzulänglichkeiten des Ästhetik-Booms
in der Zahnheilkunde


Kritik 4: Die Ausrichtung der Zahnheilkunde an der Ästhetik
wird eine Kultur der Oberflächlichkeit unterstützen


Ein Arzt, der allein den Wunsch des Patienten als Legitimation
seines ärztlichen Tuns begreift, ohne diesen Wunsch noch
einmal kritisch zu reflektieren, läuft Gefahr, bestimmte Vorstellungen
zu bestätigen, die für sich genommen kritikwürdig
sind. So müssen wir z. B. fragen: Was ist das für eine Vorstellung
vom Menschen, wenn man davon ausgeht, dass man nur mit
einem gleichmässigen Gebiss ein lebenswertes Leben führen
kann? Was ist das für ein Menschenbild, wenn man die persönliche
Anerkennung von der Form des Gebisses oder der
Zahnfarbe abhängig macht?

Die kosmetische Zahnmedizin trägt zu einem in der Medizin
wie in der modernen Gesellschaft weit verbreiteten Machbarkeitswahn
bei. Daher ist nicht zu leugnen, dass eine sich der
reinen Ästhetik verschreibende Medizin sich zur Komplizin
einer solchen auf Nichtigkeiten orientierten und von Machbarkeitsvorstellungen
geleiteten Gesellschaft macht . Die Fixierung auf Äusserlichkeiten, die Hochschätzung des reinen Scheins und die Reduzierung des Menschen auf
seine Leistungsfähigkeit und seine rein äusserliche «Attraktivität
» sind ein Bestandteil der beklagenswerten Verstrickung
der modernen Medizin. Eine solche Medizin hat sich von ihrem
ureigensten Auftrag, eine Hilfe für krank gewordene, für
in Not geratene Menschen zu sein, verabschiedet und sich dazu
herabgelassen, Erfüllungsgehilfin einer mit Ideologien behafteten
Konsumgesellschaft zu werden. Sie ist zuweilen nicht
mehr als eine Dienerin der Beauty-Industrie.

Ähnlich beruht auch das Vertrauen des Patienten weniger
in der technischen Versiertheit des Arztes als darin, zu wissen,
dass, wenn er Arzt ist, er als Arzt sicher zuallererst an seinen
Patienten denken wird. Von einem Verkäufer wird man eine
solche moralische Grundeinstellung nicht erwarten, und jeder
weiss, dass der Verkäufer zunächst einmal daran denkt, sein
Produkt zu verkaufen. Ein Arzt aber darf nicht zuerst an den
Verkauf denken, sondern muss zuerst daran denken, ob seine
Leistung tatsächlich gut für den Patienten ist. Genau hierin
liegt der vulnerable Punkt der heutigen Zahnmedizin, wie der
Medizin überhaupt.

Der ästhetische Zahnarzt, der – als Arzt – in einer Weise
«hilft», die viele Risiken mit sich bringt, teuer für den Patienten
ist und zugleich ineffektiver ist als andere Formen, soziale oder
private Anerkennung zu erlangen, ein solcher Zahnarzt wird
seinem Auftrag als Arzt jedenfalls nicht gerecht. Daher wird die
ästhetische Zahnmedizin als Medizin nur dann eine Zukunft
haben können, wenn sie das bewahrt, was ihr grösstes Pfand
ist, nämlich das Vertrauen in ihre moralische Integrität.

https://www.zahnaerzte.ch/doc/doc_d...6A1185B8C4BAF84099965DF5EE&&IRACER_AUTOLINK&&

Grüße von Anneke
 
Weiter geht's :).

Die Entscheidung zur Zahnextraktion/Zahnentfernung stellt für Zahnärzte und Patienten unter Berücksichtigung ethischer Prinzipien oft gleichermaßen ein Problem dar.

Nach Beauchamp und Childress gibt es 4 Prinzipien:

1. Respekt vor der Patientenautonomie (Selbstbestimmungsrecht)

2. Non-Malefizienz (Nichtschadensgebot)

Motto: „primum nil nocere" – ärztliches Verbot, dem Patienten
einen ungerechtfertigten Schaden zuzufügen


3. Benefizienz (Gebot des Wohltuns, Fürsorge)

Motto: „bonum facere" – die ärztliche Verpflichtung auf das
Wohl des Patienten


4. Gerechtigkeit (Fairness)

Verpflichtung auf eine gerechte Behandlung der Patienten


An dieser Stelle möchte ich Auszüge aus einem Artikel einfügen, der auf zm-online zu finden war. Er beschäftigt sich mit der

1. Psychosomatik des Bezahnten

2. Psychosomatik des Zahnverlustes

3. Psychosomatik des Zahnlosen



Hier die Einleitung, die zugegeben nicht besonders nett klingt ;)

Professor Dr. Müller-Fahlbusch nannte sie "Lehrerinnen mit Doppelnamen, Alter über 40" und heimste sich mit dieser Beschreibung nicht nur Freunde ein. Gemeint hatte der große Psychosomatiker aus Münster aber genau die Patientengruppe, die auch ohne jeden zahnärztlichen Befund immer wieder mit Problemen in der zahnärztlichen Sprechstunde auftaucht(e). Seit einigen Jahren hat sich der so genannte Problempatient als der "psychosomatische Patient" entpuppt. Wie vielschichtig dieses Krankheitsbild ist, stellt hier Primarius Dr. Dr. Gerhard Kreyer, Langenlois, in allen Einzelheiten vor.

Unter Berücksichtigung des Themas ein Auszug zur

Psychosomatik des Zahnverlustes


Gerade aus tiefenpsychologischer Sicht kommt der Oralregion besonderer Stellenwert zu. Wir wissen seit den Arbeiten Freuds (6,7), Abrahams (1), Elhardts (5) und anderer um die Bedeutung des Zahnes als Sinnbild von Aggressivität, Vitalität, Kraft und Potenz. Zahnverlust wird oftmals empfunden als Potenzverlust oder Verlust der sexuellen Attraktivität.

Entsprechender Stellenwert kommt dieser Problematik bei der Indikationsstellung zur Zahnextraktion zu, insbesondere dann, wenn es sich um den Verlust von Frontzähnen handelt, welche sowohl in phonetischer als auch in ästhetischer Hinsicht für die Außenpräsentation und für die soziale Interaktion von überragender Bedeutung sind.

Eine weitere Akzentuierung ist dann gegeben, wenn es sich um Patienten in der Lebensmitte, der Zeit der so genannten "Midlife-Crisis" handelt. Hier bedarf es sehr genauer Überlegungen, ob tiefe Eingriffe in dieses in besonderer Weise sensible und persönlichkeitsnahe orofaziale System des Mundes, zum Beispiel im Sinne von Reihenextraktionen - womöglich an Frontzähnen -, von diesen Patienten psychisch verkraftet werden können.

www.zm-online.de/m5a.htm?

Was mir aufgefallen ist:

Zu Beginn wird vom Problempatienten gesprochen, der immer wieder ohne ärzlichen Befund die Zahnarztpraxen "heimsucht".

Danach stellt sich jedoch heraus, dass sogar selbst bei medizinischer Indikation mehr oder weniger von Zahnextraktionen abgeraten wird. Wieder aus psychologischer Sicht.

Was denn nun?

Immerhin gibt es einen Befund.

Und wird "diesen Patienten" ein entsprechender Befund dann überhaupt mitgeteilt - oder stellt dies auch bereits eine Zumutung für den Patienten dar, der dann möglicherweise in eine Krise gerät?

Und kann man sich eigentlich ab Mitte 40, wenn die Qualität der Zähne nunmal allmählich nachläßt, überhaupt noch zum Zahnarzt trauen, ohne einen möglichen gesundheitlichen Schaden in Kauf nehmen zu müssen, weil der Zahnarzt es gut mit seinem Patienten meint?

Grüße von Anneke
 
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