"Der Verlust des Mitgefühls" von Arno Grün

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Wenn wir die zentrale Rolle des Mitgefühls in unserem Leben erkennen, können wir die Geschichte unserer Zivilisation als Geschichte des Ringens um Empathie bezeichnen. Die Pervertierung der Empathie in Selbstmitleid aber dient nur dem Haß auf das Leben.
Empathie ist etwas, über das wir alle verfügen und das auch unter widrigsten Umständen aufsteigen kann. Doch der Haß auf das Leben ist schwer zu vernichten. Wenn wir ihm Einhalt gebieten, kehrt er in anderer Form wieder und ist häufig nicht sofort als Haß zu erkennen. Die Unfähigkeit, uns selbst vor diesem Haß zu schützen, beruht auf der Identifikation mit unseren Unterdrückern - einer Identifikation, die bei jedem unterschiedlich ausgeprägt ist. Die Sehnsucht nach Liebe wird blockiert von der Sehnsucht nach Autorität, die uns vor der Angst und dem Terror retten soll, durch die wir zur Idealisierung des Täters gezwungen wurden. Wir fühlen uns sündig, weil wir die Wahrheit ursprünglich erkennen konnten, zugleich streiten wir diese Sünde fortwährend ab, indem wir andere zu Opfern machen, die wir dafür bestrafen, daß wir selbst Opfer geworden sind.
Solange Wohlstand und scheinbare Ordnung herrschen, ruht das Opfer in uns. Wenn es aber in Zeiten von wirtschaftlicher Not und politischem Chaos erwacht, erwacht auch der Haß gegen uns selbst und die Notwendigkeit, diesen Haß auf »Feinde« abzuwälzen. Und so lassen wir das Böse in dem Maße zu, in dem wir selbst von Nicht-Liebe geformt worden sind. Zudem können viele von uns keine eigene Identität entwickeln, sondern sich lediglich mit jenen identifizieren, die die Unterwerfung anderer zum Sinn ihres Lebens gemacht haben.
Unsere Aufgabe muß es sein, die Erinnerung an das Kind in uns zurückzuholen und uns unseren Kindern zu widmen, indem wir auf der Legitimität unseres Mitgefühls bestehen.
Jakob Wassermann (1994) illustriert dies mit folgender Parabel:
Wenn ich einen Fuhrmann sehe, der sein abgetriebenes Roß mit der Peitsche dermaßen Mißhandelt, daß die Adern des Tieres springen und die Nerven zittern, und es fragt mich einer von den untätig, obschon mitleidig Herumstehenden, was geschehen soll, so sage ich ihm: >>Reißt dem Wüte- rich vor allem die Peitsche aus der Hand.
Erwidert mir dann einer: Der Gaul ist störrisch, der Gaul ist tückisch, der Gaul will bloß die Aufmerksamkeit auf sich lenken, es ist ein gutgenährter Gaul, und der Wagen ist mit Stroh beladen, so sa- ge ich ihm: Das können wir nachher untersuchen; vor allem reißt dem Wüterich die Peitsche aus der Hand.
[841] Der Verlust des Mitgefühls

Ein sehr kluger Text, finde ich, vor allem die markierten Zeilen.
Letzlich heißt das in einfachen Worten: solange ich mich nicht selbst mag und zu mir stehe und die Verantwortung für mich selbst übernehme, kann ich bei ungünstigen und schlimmen Voraussetzungen mein Leben nicht selbst leben. Ich reagiere, aber ich agiere nicht.
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Zu Arno Grün:
www.susannealbers.de/04psycho-gruen-werk07.html
Arno Gruen: Der Wahnsinn der Normalität. Realismus als Krankheit - eine grundlegende Theorie zur menschlichen Destruktivität
Meine Wogehenwirhingedanken - Der Krieg gegen den Terror. Arno Gruen - Brandstifter auf der Couch.

Gruss,
Uta
 
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Hallo Uta,

Ein sehr kluger Text, finde ich, vor allem die markierten Zeilen.
Letzlich heißt das in einfachen Worten: solange ich mich nicht selbst mag und zu mir stehe und die Verantwortung für mich selbst übernehme, kann ich bei ungünstigen und schlimmen Voraussetzungen mein Leben nicht selbst leben. Ich reagiere, aber ich agiere nicht.

ja - das finde ich auch!

Noch ein wenig mehr zu Empathie:

Empathie (Einfühlungsvermögen) ist die Fähigkeit, sich in die Gedanken, Gefühle und das Weltbild von anderen hineinzuversetzen. Der Begriff leitet sich vom griechischen Wort "empatheia" für "Einfühlung" ab. Empathie impliziert, Gedanken und Gefühle des Anderen so weit wie möglich zu erkennen und aus dem Weltbild (d.h. der Sichtweise und Perspektive) des anderen zu interpretieren.

Die Kunst zuzuhören und den anderen zu verstehen

Hier liegt der wirklich entscheidende Punkt: Es geht nicht darum, die Gedanken, Aussagen und Emotionen des Anderen aus einer eigenen Perspektive oder einer pseudo-rationalen / pseudo-objektiven Sichtweise zu werten, sondern zu versuchen zu verstehen, was den Anderen aus seinem Weltbild und seinem Erfahrungshorizont heraus zu bestimmten Handlungen und Meinungen bewegt.
Empathie

Perspektivenübernahme ist eine Technik bzw. Fähigkeit aus der Sozialpsychologie, bei der man sich in die Rolle und Position eines anderen hineinversetzt und versucht, die Welt aus dessen Sicht zu sehen.

„in den Mokassins eines anderen gehen“ - (Indianische Redensart, vollständig „Urteile nie über einen anderen, bevor Du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist“ für: sich in seine Rolle, seine Perspektive einfühlen)

Außerdem wird darunter die Fähigkeit verstanden, auf andere Werthaltungen und Normen einzugehen, sie in die Person integrieren und neue soziale Rollen annehmen zu können (vgl. Tausch (Soziologie)).

Wesentlich dabei ist, dass der eigene Affektzustand dem Gefühlszustand einer anderen Person entspricht. Dies wird dadurch ausgelöst, dass man die Perspektive der anderen Person einnimmt - „in ihre Haut schlüpft“ - und so ihre emotionalen und anderen Reaktionen begreifen kann. Dies gelingt teilweise sogar in extremen Situationen. Beispielsweise wird in Anti-Aggressions-Therapien die Fähigkeit von (potenziellen) Gewalttätern gefordert, sich empathisch in ihre Opfer hineinzuversetzen.

Hirnforschung

Neuere Untersuchungen lassen zwischen dem Nachahmungsverhalten, beispielsweise dem Gähnen, und der Fähigkeit zur Empathie einen Zusammenhang vermuten (siehe auch Spiegelneuron).

In der aktuellen Hirnforschung (siehe Manfred Spitzer) zeigt sich eine durch Hirnstrukturen beeinflusste Empathie gegenüber Personen in Abhängigkeit von deren fairen bzw. unfairen Verhaltens. Dabei konnte eine unterschiedliche Ausprägung bei Frauen und Männern festgestellt werden. Besagte Hirnstrukturen reagieren bei Männern deutlicher und stärker auf äußere Einflüsse von Fairness oder Unfairness. Die empfundene Empathie wird bei Fairness-Erfahrung in den betroffenen Hirnregionen derart verstärkt, dass Männer z. B. ein größeres bzw. verstärktes Mitgefühl empfinden. Im umgekehrten Falle, also bei Unfairness-Erfahrung, reagieren die Hirnregionen bei Männern mit einem deutlicheren Bestrafungsempfinden.

Dagegen ist dieser Effekt bei Frauen sowohl im positiven als auch im negativen Sinne viel schwächer ausgeprägt. (Ob eine funktionell unterschiedliche Reaktion von Hirnstrukturen, die bei beiden Geschlechtern vorhanden sind, tatsächlich durch eine geschlechtsabhängig anatomisch-feingewebliche besondere Beschaffenheit dieser Hirnstrukturen bedingt oder durch andere Faktoren erst erworben oder antrainiert ist, ist durch diese Untersuchungen nicht geklärt - vergleiche z. B. frühkindliche Sehstörungen durch Reizdeprivation, wo ebenfalls kein anatomischer, sondern nur ein funktioneller Unterschied zu normal entwickelten, sehenden Kindern besteht.)

Auch im Tierreich wird die Fähigkeit zur Empathie als Evolutionsvorteil erforscht.
Empathie - Wikipedia

Hier findet man noch ein wenig mehr zu emotionaler Intelligenz, zu der Empathie, sozusagen als ein Baustein, gehört:
Die Welt der Hexen - Empathie

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Zum Thema Mitgefühl/Empathie hier noch etwas von der Seite von oya - anders denken.anders leben:


Der Verlust des Mitgefühls
Am Anfang war Empathie. Und dann? – Eine Würdigung der Forschung Arno Gruens.

von Jan Moewes erschienen in 13/2012

Nach seiner intensiven Beschäftigung mit dem Werk von Arno Gruen erzählt Jan Moewes, was ihn der große Psychologe über Ursache und Wirkung der Zerstörung der Empathie gelehrt hat und wie sich die Fähigkeit zur Einfühlung zurückgewinnen lässt.

(...)

So hat eine Demokratie keine Chance. Unbewusste Bindungen und unbewusste Antriebe sind infantile Zustände, die wir der Tatsache verdanken, dass die abgespaltenen Teile der Seele nicht mehr teilnehmen und nicht weiterwachsen. Ein Teil des Stammhirns, das sich als erstes ausbildet, verharrt auf dem Stand eines Kleinkinds. Aber in kritischen Situationen übernimmt es später trotzdem das Steuer.
Deshalb ist ein partiell Vierjähriger in einer Führungsposition ein unkalkulierbares Risiko. Demokratie braucht Erwachsene, sich selbst verantwortende Menschen. Außerdem braucht Demokratie Politiker, bei denen Verstand und Gefühl zusammengehen. Aber gerade die seelisch Gespaltenen drängeln an die Macht oder ins Fernsehen, um der Leere und dem Schmerz zu entfliehen.

Psychopathen und Bürokraten festigen und fördern gemeinsam die Zerstückelung unserer Sicht und Wahrnehmungen, weil ihre eigene persönliche Kohäsion die Gespaltenheit benötigt. […] Zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind wir vom Ende der Natur und damit der Welt selbst bedroht, weil sich eine Technik, die scheinbar volle Herrschaft über den Planeten Erde ermöglicht, in der Hand von Psychopathen und Bürokraten befindet. (10)

Diese wenigen Worte beschreiben die Situation auf unserem Globus besser als alles andere, was ich gehört, gelesen oder gesehen habe. Es ist tatsächlich ein Teufelskreis, den die in Gang halten, die weitergeben, was man ihnen gegeben hat.
Die Quelle der Gewalttätigkeit liegt in dem, was selbst erlebt und erlitten wurde. (11)
(...)

Hier der ganze Text:
OYA :: Der Verlust des Mitgefühls

So ist ein Stückweit beleuchtet, warum wir als Menschheit heute da stehen, wo wir stehen.

Und, auch sehr interessant - auch auf der Seite von oya:



Wie kann mensch Liebe lernen?

Die »Liebesschule Potsdam« nimmt Jungen und Mädchen mit auf äußere und innere Reisen.

von Kathrin Raunitschka erschienen in 13/2012

E inmal im Jahr geht es mit der Liebesschule Potsdam hinaus in die Natur. Jungen und Mädchen zwischen elf und dreizehn Jahren machen eine Entdeckungsreise – zu sich selbst und zum anderen Geschlecht.

(...)

Weiterlesen hier:
OYA :: Wie kann mensch Liebe lernen?
 
Danke Flower :wave: - Du hast in Deinem Thread auf dieses Thema aufmerksam gemacht
Das sind sehr interessante Texte-die hole ich mal etwas an die Oberfläche.
"Täter und Opfer in mir" ist auch ein Thema mit dem ich mich immer wieder beschäftige.
HERZENSGRUESSE
KARDE

das las ich in einem Text von oben:
Wir Menschen werden als Original geboren - sterben aber als Kopien

Dazu etwas das mir in den Sinn kam:
Was braucht ein Mensch, damit er auch im Alter Mensch sein kann?
Er muss immer schon als Mensch behandelt worden sein.
 
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