Der Autor - Rechtsanwalt mit Schwerpunkt Umweltrecht
/ Umweltmedizin und Recht - legt in seinem
Stimmungsbild aus der anwaltlichen Praxis
seine Finger auf einige Wunden unseres Gesundheitssystems,
die deutlich machen, dass dieses
von einem kundenfreundlichen Dienstleistungssystem
weit entfernt ist.
—————————— Geschädigten-Quoten
und Gutachter(un)wesen
Mediziner und Juristen wissen, was Betroffenen und
Geschädigten vielfach unbekannt ist und was „offiziell”
keiner so richtig wahrhaben will: Ob jemand tatsächlich
geschädigt ist, beurteilt sich zwar eigentlich
danach, ob er geschädigt ist. Viel wichtiger aber ist,
ob es eine Quote für entsprechende Schädigungen
gibt und ob diese schon erreicht ist oder nicht...
Ob im Bereich der Kranken- und Rentenversicherungen
oder der Berufsgenossenschaften, überall gibt es
ein Budget, dass meistens vorne und hinten nicht
reicht. Würde man bei den Menschen, die tatsächlich
am Arbeitsplatz geschädigt wurden, ob z.B. durch
Asbest oder auch nur durch schwere Lasten (was
doch einfach zu überprüfen sein müsste), eine Berufserkrankung
anerkennen, würde dieses aber - entgegen
den wirtschaftlichen Vorgaben von oben -
sämtliche Kalkulationen sprengen.
Jeder kritische Mediziner kann deshalb von entsprechenden,
meist ganz subtilen, indirekten „Anweisungen”
bzw. „Quoten-Vorgaben” u.ä. berichten. MDKGutachter
erhalten so ihre internen Informationen,
„damit sie informiert sind”. Man weiß dann, dass man
ernsthaft eine Holzschutzmittel- oder Amalgam-
Intoxikation nicht als MDK-Gutachter anerkennen
kann, - auch wenn z.B. Amalgam-Intoxikationen zwischenzeitlich
sogar mit einer Kennziffer in dem nach
dem Sozialgesetzbuch V aufgestellten Diagnosen-
Thesaurus ICD-10 aufgenommen wurden.
Man weiß das. Eine MDK-Gutachterin hielt sich nicht
daran und stellte bei Geschädigten entsprechende
Schädigungen fest. Das Resultat war folgerichtig und
für Eingeweihte wenig überraschend: Ihr wurde gekündigt,
sogar fristlos! Sie gewann zwar den Arbeitsgerichtsprozess,
aber sie bearbeitet auf Weisung von
oben heute einen Bereich, wo sie weniger „schädlich”
sein kann: Pflegefälle!
Medizinische Wahrheiten können unbequem sein.
Nicht für die Geschädigten, denn die wollen wissen,
was sie drückt. Unbequem aber für Quoten-Denker,
die Prototypen moderner und ebenso grausamer
Wirtschaftsmentalität. Krankmachende Schädigungswirkungen
von Chemikalien, Umweltgiften etc., u.U.
sogar MCS anzuerkennen, würde einfach unser
ganzes (Denk-) System sprengen. Wir müssten ja
plötzlich ungebremstes Fortschrittsdenken in Frage
stellen - und ebenso eine ganze Wissenschaftselite,
die uns Jahre und Jahrzehnte mit monokausalen
Krankheitsbildern beliefert hat... Schier endlose
„Katastrophen” würden sich für die reduktionistischen
„Normal-Denker” auftun. Wenn ihre ganze wissenschaftliche
Weltsicht aber trotzdem bis heute kein
bisschen wackelt, dann deshalb, weil fingierte Mehrheiten
nach wie vor für angeblich „wissenschaftlich
allgemein anerkannte Lehrmeinungen” herhalten
müssen. Fiktion oder vielmehr Illusion?
Wie der oben angesprochene Kündigungsfall zeigt,
kann „unfolgsames” Verhalten unangenehme Folgen
haben. Das wissen auch die Kollegen. Das wissen
auch die anderen Gutachter. Und sei es auch nur,
dass man ansonsten keine weiteren Gutachtenaufträge
als ansonsten freier Universitätswissenschaftler
bekommt. Auf Gutachter muss man sich verlassen
können.
RECHT
Seite 174 umwelt•medizin•gesellschaft • 15 • 2/2002
_
Geschädigten-Quoten,
Gesundheitsreform und ähnliche
Kurzsichtigkeiten
- Ein Stimmungsbild aus der anwaltlichen Praxis -
Wilhelm Krahn-Zembol
Kontakt:
Wilhelm Krahn-Zembol
Rechtsanwalt
- Umweltrecht / Umweltmedizin
und Recht - (als ausschließlicher
Tätigkeitsbereich)
Lüneburger Str. 36
21403 Wendisch Evern
Tel.: 04131/93 56 56
Fax: 04131/93 56 57
RECHT
So einfach und unbemerkt funktioniert ein ganzes
Gesellschaftssystem, in dem keiner der Beteiligten
Geschädigte will, aber in dem Geschädigte zusätzlich
zu dem ganzen eigenen Leiden aufgrund ihrer
Schädigung dann auch noch nach langjährigen Prozessen
gesagt bekommen, sie seien gar nicht geschädigt
bzw. sie würden sich ihre Erkrankungen nur einbilden!
Welch’ Hybris, welch’ Ignoranz, welche schon verselbständigte
„Sucht” nach Rechtfertigung für Mediziner
und Juristen, die anderenfalls die Folgen Ihres
eigenen Handelns wohl kaum mit ihrem eigenen
Gewissen noch vereinbaren könnten!
————————————Stereotype Abläufe
am Menschlichen vorbei
Ein „kleines” Beispiel: Längst überfällig ist z.B. die Anerkennung
von arbeitsplatzbedingten Meniskus-
Schäden, so dass die Berufskrankheitenverordnung
hier auch entsprechend geändert werden soll. Der
typische Ablauf: Man denkt sich eine bestimmte
Rechenformel aus, nach der diese Schäden „objektiv”
berechnet werden können. Diese winzige Formel ist
dann Maßstab für alles weitere. Jeder Beteiligte weiß,
dass damit nur ein kleiner Prozentteil der tatsächlich
Geschädigten erfasst und anerkannt werden kann.
Aber ein Ergebnis, dass („von oben”) „gewollt” ist. So
einfach ist „objektive Wissenschaft”: Man reduziert
die Wirklichkeit auf das gewünschte Maß und die
Welt ist wieder in Ordnung - nur den Geschädigten
ist nicht geholfen!
Recht oder Unrecht? Die neue Form von Grausamkeit?
Mathematische Formeln, Lehrmeinungen, fiktive
„wissenschaftlich anerkannte Diagnosemethoden”
können ein Allheilmittel für alles sein, wohin
man nur will - zur Wahrheit oder zur Unwahrheit. So
einfach ist nicht nur Machtpolitik, so einfach - und
erschreckend! - ist auch Medizin, Recht und Wissenschaft!
Nach jahrelanger Berufserfahrung sieht die
Welt einfach anders aus als mit den Vorstellungen,
die einen noch früher zur Studienzeit bewegten.
Das Wirtschaftlichkeitsgebot der Krankenkassen
gem. § 12 SGB V scheint das oberste Prinzip. In der
Praxis werden Ärzte durch Budgetierung „diszipliniert”.
Verzweifelte Patienten suchen jahrelang unzählige
Ärzte auf, lassen brav kostenintensive Untersuchungen
und Behandlungen durchführen, aber
das, was ihnen letztlich geholfen hat, - oftmals eine
sogenannte „nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode”
(die nach § 2 Abs. 1 Satz 2 SGB V aber
eigentlich ebenfalls zu erstatten wäre, auch wenn sie
nur einen winzigen Bruchteil der Kosten im Vergleich
zu den erfolgten Vorbehandlungen auslöste) -
müssen die geschädigten Patienten privat bezahlen.
Unzählige Kranke, die leiden, aber deren Krankheitsbild
nicht „systemkonform” ist. Oder ein Krankenkassensystem,
das nicht krankheits- und menschenkonform
ist?
Je mehr Gesundheitsreform gesetzgeberisch betrieben
wird, um so kränker scheint das Gesundheitswesen
zu werden. Besten Willens ruiniert Bürokratie
und eine zunehmend dogmatische Medizin das, was
uns eigentlich alle gesund erhalten soll.
————————————————Noch einmal
Amalgam-Intoxikationen
Ein hübsches Beispiel. Denn es gibt so viele Beteiligte,
die jahrzehntelang der Bevölkerung Märchen erzählt
haben: Amalgam-Füllungen, zu ca. 50% aus
hochgiftigem Quecksilber (jeder weiß das!), verursache
weltweit angeblich lediglich ein Dutzend nachgewiesener
Allergiefälle. Jeder Kräutertee ist dagegen
ein unvergleichlich höheres Gesundheitsrisiko, so
ungefährlich ist Quecksilber in Amalgam-Füllungen!
So die offizielle Version von Krankenkassen, Ärzteschaft,
Zahnärzteschaft (sowieso), Bundesgesundheitsamt,
jetzt Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte, Amalgam-Hersteller (selbstredend)
etc.
Verwunderlich, dass aber in Dutzenden von Fällen,
allein in meinem Büro, Amalgam-Schädigungen
außergerichtlich und gerichtlich (vergleichsweise)
anerkannt wurden! Wenn ich allein aus meinem
Kenntnisstand ersehe, wie vielen Menschen ganz erheblich
(sogar bis zur Wiederherstellung ihrer
Arbeitsfähigkeit) geholfen werden konnte, nachdem
ihre Amalgam-Intoxikation endlich behandelt wurde,
erscheint das Ausmaß an systematischer Verdrängung,
noch mehr aber das so verursachte Leiden erschreckend.
Fiktion? Realismus?
Es gibt eine klare Perspektive: Sobald ein vergleichbares
Alternativmaterial vorliegt, haben bestimmt alle
Beteiligten immer schon gefordert, dass Amalgam
endlich verboten wird. So einfach ist das: Wirtschaftliche
Vorgaben schaffen wirtschaftliche Wahrheiten.
Ohne Zwang, ohne Zahlungen, ganz subtil, aber um
so wirksamer.
Ein absurdes System. Keiner kann das wollen. Das
gibt Hoffnung. Wir müssen uns „nur” darüber verständigen,
was wir wirklich wollen! Alles andere ist
Übergang, durch den wir wohl leider hindurchmüssen.
Es gibt einiges zu tun.
umwelt•medizin•gesellschaft • 15 • 2/2002 Seite 175
_