Die 68-er - vom Aufbruch zur Altlast

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Malve

Wer sich für die (wilden?!) 68er interessiert, dem sei das heutige Nachtcafé (SWR3, 22 h) ans Herz gelegt.

Kaum eine Generation hat unsere Gesellschaft so verändert und geprägt wie die 68er. Während viele noch heute an die Ideale von damals glauben, ist es 40 Jahre danach an der Zeit Bilanz zu ziehen: Sind nicht wenige beim Marsch durch die Institutionen selbst Teil des Systems geworden? Haben die 68er tatsächlich die Gesellschaft stark verändert?
www.swr.de/nachtcafe/-/id=200198

Ich könnte mir vorstellen, dass es eine interessante Runde wird.
Die Gäste sind: Krista Sager, Hans Olaf Henkel, Oswalt Kolle, Katja Kullmann, Prof. Gerd Langguth, Kolin Schult, Bernd Lunkewitz, Rudi Marek Dutschke.

Liebe Grüsse,
uma
 
"Immer radikaler"
24. September 2007
Dany Cohn-Bendit, 62, über Baader, Ensslin und die Entstehung der RAF, die Verehrung Ché Guevaras und die Verantwortung der Studentenbewegung für den Terrorismus

SPIEGEL: Herr Cohn-Bendit, Sie haben Andreas Baader und Gudrun Ensslin im Oktober 1968 beim Prozess wegen der Kaufhausbrandstiftungen in Frankfurt erlebt. Welchen Eindruck hatten Sie von ihnen?

Cohn-Bendit: Ich habe damals im Gerichtssaal erklärt: „Die gehören zu uns.“ Das war nicht gerade das Schlaueste, was man hätte sagen können, aber ich sah ihre Aktion als Happening. Die Kaufhausbrandstiftung war für mich eine Aktion von Leuten, die bekifft waren und die Folgen ihrer Tat nicht bedacht hatten.

SPIEGEL: Sie konnten sich demnach nicht vorstellen, dass Baader und Ensslin bald tödliche Bomben legen würden?

Cohn-Bendit: Heute sind wir schlauer, aber mir erschienen sie damals nicht als angehende Terroristen. Ich habe Gudrun Ensslin im Gefängnis besucht; sie saß in Frankfurt-Preungesheim unter der Obhut der großen liberalen Reformerin des Strafvollzugs, Helga Einsele. Wir haben zu dritt Kaffee getrunken. Es war sehr nett, und ich dachte: Gudrun ist im Grunde die perfekte Sozialarbeiterin.

SPIEGEL: Ensslin und Baader haben nach ihrer Haft zunächst eine Kampagne gegen die antiquierten geschlossenen Erziehungsheime für Jugendliche gemacht.

Cohn-Bendit: Im Zusammenhang mit dieser sogenannten Heimkampagne habe ich auch Baader kennengelernt. Die Kampagne war einerseits getragen von dem sozialen Impetus, diesen Jugendlichen eine Chance zu geben, andererseits von der totalen Instrumentalisierung der Jugendlichen. Ich habe Baader und Ensslin gesagt: Lasst diese Jugendlichen in Ruhe. Daraufhin zückte Baader seine Mao-Bibel und sagte: „Sie sind die Speerspitze des revolutionären Proletariats.“ Da wurde mir klar, dass er vor nichts zurückschrecken würde, um andere Menschen für seine Zwecke zu funktionalisieren.

SPIEGEL: Fürchteten Sie da, dass Baader und Ensslin morden würden?

Cohn-Bendit: Nein. Französische Freunde, die Baader zusammen mit Ensslin dann nach Paris gebracht haben, sagten mir allerdings: So einen Kotzbrocken wie Baader hätten sie noch nicht erlebt; ein grauenhafter Typ. Er sei mit der Attitüde aufgetreten: „Ich werde eine große Rolle im revolutionären Prozess der nächsten Jahre spielen. Die Welt gehört mir, und ihr habt euch mir unterzuordnen.“

SPIEGEL: Warum verliebte sich Ende der sechziger Jahre ein wesentlicher Teil der Jugend in die Idee der Revolution, die ja meist Gewalt impliziert?

Cohn-Bendit: Wir sagten damals: So wie die Welt ist, wollen wir sie nicht. Und wir sagten: Wir wollen die Welt selbst gestalten. Wir sind dazu fähig. Unsere Eltern und Großeltern haben geschichtlich versagt.

SPIEGEL: Warum adaptierten die Rebellen die alte Ideologie des Marxismus?

Cohn-Bendit: Der Marxismus stellte eine radikale Kritik an der herrschenden Gesellschaftsordnung dar, und in Westdeutschland beispielsweise war er aufgrund des Kalten Krieges tabuisiert. Da aber der real existierende Sozialismus in Osteuropa auch keine attraktive Alternative war, flüchteten die einen nach Kuba, die anderen nach China, nach Vietnam, nach Albanien. Wir Libertären flüchteten in die Geschichte – zu den Anarchisten des Spanischen Bürgerkriegs. Aber wir waren alle nicht in der Lage, aus unserer berechtigten Kritik eine zukunftsfähige und unseren Gesellschaften entsprechende Alternative zu entwickeln.

SPIEGEL: Wie konnte eine anfangs antiautoritäre Bewegung so schnell totalitäre und antidemokratische Ideen bis hin zum Terrorismus übernehmen?

Cohn-Bendit: Der größte Star der antiautoritären Bewegung war Ché Guevara, der einen ebenso radikalen wie autoritären Ansatz vertrat. Er wollte den „Neuen Menschen“ schaffen, und zwar mit Gewalt. Dabei wurde Ché mehr wie eine Pop-Ikone verehrt und diente als ein Objekt sexueller Projektion. Die Bewunderung für ihn, Mao Zedong oder Ho Tschi-minh – das waren doch alles Projektionen unseres Wunsches nach Emanzipation und Befreiung. Der Realitätsgehalt ihrer Texte und das, was sie wollten und taten, wurde nicht geprüft. Wir nahmen sie als Metaphern unserer Wünsche.

SPIEGEL: Welche Rolle spielte die harte Reaktion von Polizei und Justiz auf die Studentenbewegung bei der Entstehung des Terrorismus?

Cohn-Bendit: Der 2. Juni 1967 offenbarte wohlanständigen Studenten, wie schnell man zum Staatsfeind werden kann, wie schnell die etablierte Gesellschaft mit ihrer Propagandamaschine, allen voran die Zeitungen Axel Springers, einem den Kampf erklären kann. Dazu kam, dass über die vollkommen berechtigte Kritik am Krieg der Amerikaner in Vietnam jegliche Diskussion abgeblockt wurde. Das führte zwangsläufig zu einer Entfremdung und Radikalisierung.

SPIEGEL: War die Eskalation nicht mehr zu stoppen?

Cohn-Bendit: Das ist schwer zu sagen. Auf jeden Fall haben sich die etablierte Politik und die Justiz beim Kampf gegen die RAF auch radikalisiert. Es gab keinen Moment des Einhaltens und Überlegens mehr. Von der RAF war das nicht zu erwarten, aber den Vertretern des Staates sollte man eine andere Vernunft unterstellen. Heinrich Böll machte den hilflosen Versuch, freies Geleit für Ulrike Meinhof zu fordern. Er wurde als „Sympathisant“ der RAF angegriffen.

SPIEGEL: Gibt es ein spezifisch deutsches Moment bei der RAF?

Cohn-Bendit: Es ist zumindest auffallend, dass die drei Länder, in denen vor bald 40 Jahren die größten und härtesten terroristischen Gruppen der westlichen Welt entstanden, Deutschland, Italien und Japan waren – also die Achsenmächte des Zweiten Weltkriegs mit faschistischer Vergangenheit.

SPIEGEL: Inwiefern sehen Sie die Terroristen in einer faschistischen Tradition?

Cohn-Bendit: Einerseits hat die Japanische Rote Armee in Kamikaze-Manier, lange vor den Islamisten, die ersten Selbstmordattentate verübt, etwa 1972 auf dem israelischen Flughafen Lod. Auch die moralisierende Rigidität der RAF hat etwas von der Haltung: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen. Aber der entscheidende Mechanismus war ein anderer, entgegengesetzter: Junge Menschen haben versucht, den Kampf gegen den Faschismus, den ihre Eltern nicht geführt haben, nachzuholen.

SPIEGEL: Muss sich die Neue Linke der sechziger Jahre für den Terrorismus der siebziger Jahre mitverantwortlich fühlen?

Cohn-Bendit: Die ideologischen Versatzstücke der RAF stammen aus der Konkursmasse unserer Revolte. Zudem haben wir nicht klar auseinandergehalten – was heißt Widerstand in einem faschistischen Staat, was ist Widerstand in einer Demokratie? Wir können uns deshalb von einer politischen und moralischen Verantwortung für die RAF nicht freisprechen.

Roland Nelles, Der SPIEGEL
 
Danke für den Tipp :). Wenn ich bis dahin nicht eingeschlafen sein sollte, dann schaue ich es mir an...Oje, dann gibt es sicher wieder Diskussionen hier im Forum...Ist denn der Admin schon vorgewarnt ;) ?

Unsere Gäste:

Krista Sager
Krista Sager war eine junge 68erin, die schon mit 14 Jahren politisch aktiv war, angezettelt durch Konflikte im Elterhaus. Ihr Weg von der Sozialistischen Studentengruppe bis an die Spitze der Grünen Regierungsfraktion steht im Geist der Ideale der 68er.

Vorwürfe, dass klassische Werte, notwendige Familienstrukturen und unfassende Bildung durch die angeblichen Kämpferideologien zerstört wurden, weist sie entschieden zurück. „Man kann die 68er doch nicht für alles verantwortlich machen.“

Hans Olaf Henkel
Das sieht Hans Olaf Henkel ganz anders, für ihn sind die 68er eine klare Altlast. Der langjährige IBM-Manager und BDI-Vorsitzende gibt den 68ern die Schuld an der aktuellen PISA-Misere und an anderen gesellschaftlichen Missständen.

Henkel sieht als Verfechter des Bürgertums heute mehr denn je die Notwendigkeit, den seiner Meinung nach offensichtlichen Linksruck in Deutschland zu bekämpfen und alte Werte und Sekundärtugenden wie Fleiß und Disziplin wieder in den Vordergrund zu rücken:

„Für mich sind die Langzeitfolgen der 68er heute noch zu spüren.“

Oswalt Kolle
Zur Symbolfigur der sexuellen Revolution in den 60er Jahren wurde Oswalt Kolle durch seine Aufklärungsfilme, mit „Das Wunder der Liebe“ drang er 1968 in die ehelichen Schlafzimmer vor.

Gesellschaftspolitisch waren die 68er für ihn außerordentlich wichtig, auf dem Gebiet der Sexualität und der Kindererziehung hielt er sie für ungebildet und auf dem völlig falschen Dampfer.

„Man kann nicht alles verändern, indem man sich mit dem nackten Arsch auf einen Bürgermeisterstuhl setzt.“

Katja Kullmann
Von der Emanzipationsbewegung der 68er profitiert heute die 37-jährige Autorin Katja Kullmann. Sie ist Teil der ersten Generation, die die gesellschaftlichen Freiräume barrierefrei ausleben kann: So gehören Patchwork-Familien mittlerweile zum Alltag, die Ehe als Wirtschaftsgemeinschaft hat nach Kullmann „ausgedient“ und die Frau als Heimchen am Herd gilt als unsexy.

Viele ihrer Zeitgenossen wüssten es jedoch gar nicht mehr zu schätzen. „Wir Frauen haben es teilweise versäumt, den Geist von `68 weiter auszubauen.“

Pofessor Gerd Langguth
Das Leben des Politik-Professors Gerd Langguth ist ein klarer Gegenentwurf zu den typischen 68ern: So stellte er sich bereits zu Studentenzeiten gegen die Reformer, trat in den „Ring Christlich-Demokratischer Studenten“ ein und geriet als erklärter Feind der Revoluzzer oft mit ihnen in handfeste Konflikte.

Mit der gleichen klaren politischen Gesinnung saß der frühere RCDS-Vorsitzende später für die CDU im Bundestag. „Die linken 68er wollten die Universitäten übernehmen, da musste ich doch etwas dagegen tun.“

Kolin Schult
Als 68er Kind des Aktionskünstlers HA Schult wuchs Kolin Schult zwischen Kinderladen und Kommune auf. Es herrschte ein Hauen und Stechen, die Erzieher sahen dabei zu. Zu Hause war sexuelle Freiheit im Kommuneleben Pflicht. Er musste hungern, während sich die Erwachsenen der freien Lieben hingaben.

Heute setzt er sich auf seine Art als Filmemacher mit seinen Kindheitserlebnissen auseinander. „Den 68ern ging es nicht darum, Macht abzuschaffen, sondern sie wollten sie selbst übernehmen.“

Bernd Lunkewitz
Der Unternehmer Bernd Lunkewitz fehlte Mitte der 60er Jahre als bekennender Marxist und Maoist auf keiner Demo. In vollem Einsatz für die Sache wurde der „Che von Kassel“ sogar angeschossen. Doch Anfang der 70er Jahre wechselte der heute 60-jährige desillusioniert das Lager und entdeckte den Kapitalismus, um Immobilienspekulant und Millionär zu werden.

Später kaufte er den Aufbau-Verlag und ist seitdem Verleger. Egal, was Lunkewitz beruflich machte, immer sah er sich den Werten der 68er verpflichtet, auch wenn er schon einräumt, dass „der Lunkewitz von heute sicher ein anderer ist, als der von damals.“

An der Bar:

Rudi Marek Dutschke
Rudi Marek Dutschke ist der Sohn des bekanntesten Studentenführers der 68er, Rudi Dutschke. Seinen Vater lernte er nie kennen, dieser starb drei Monate vor seiner Geburt.

Als Marek um die Jahrtausendwende aus den USA nach Deutschland kam um selbst politisch aktiv zu werden, bemerkte der 27-jährige die schwere Bürde des geschichtsträchtigen Namens. „Mein Vater hat Deutschland im Nachhinein etwas positiver gemacht.“
 
Hallo Uta,

Nachtcafé wird jeden Samstag, jeweils ab 8.30 Uhr wiederholt!
(Danach schnell ausschalten, sonst guckt man Sturm der Liebe :D)

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Hallo Uta,

leider wird gerade diese Ausgabe des Nachtcafés (18.1.08) nicht wiederholt :mad:;
Wiederholungen auf 3sat:
Donnerstags, 10.15 Uhr
17. Januar
Angst vor dem Alter
7. Februar
Leben in Balance
www.swr.de/nachtcafe/-/id=200198

Vielleicht gibt es einen Wiederholungstermin zu einem späteren Zeitpunkt :rolleyes:

Schade!
Liebe Grüsse,
uma
 
Ein Angehöriger dieser Generation schreibt Folgendes:
...dass die 68er-Bewegung eine Sammelbewegung mit ganz unterschiedlichen Zielen, unterschiedlichen politischen Einstellungen und unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen oder weltanschaulichen Quellen gewesen sein musste, wenn sie so unterschiedliche Perspektiven zulässt. In der Tat: Die Spannweite reichte von orthodoxen Marxisten, utopische Sozialisten, über Radikaldemokraten, Antifaschisten, Pazifisten und Internationalisten, Bildungsreformern, Atomkraftgegnern, (Nach-)Freudianern bis hin zu Leuten, die über Narkotika den Zugang zu einer anderen Welt suchten. Von Anarchisten, über stramme Parteisoldaten und Sektierern, von Christen bis Freidenkern, von Asketen bis hin zu Provos, Beatniks oder Blumenkindern, und das ist bei weitem keine vollständige Aufzählung.
Quelle: NachDenkSeiten - Die kritische Website » 2008 – 40 Jahre 68er

Von meinen Eltern weiss ich, dass man damals sich engegieren konnte (etwa Studentenpolitik, Ostermärsche) auch ohne Drogen zu nehmen, in einer Kommune zu leben oder gegen alles und jeden zu sein.

Die 68er habe auch Gutes bewirkt, sie haben gegen die Noch-Nazis in Politik, Bildung und Justiz rebelliert. Leider gab es aber wohl, wie überall, Mitläufer, Nutznießer und Profiteure:
Ich kenne auch solche, die damals mit dem „aktiven“ Widerstand kokettierten und später im Dreiteiler den Staatsmann machten.
Quelle: ebd.

Vielleicht haben wir ja hier im Forum ein paar Zeitzeugen, die berichten, wie es damals war ?

Da wurde wenigstens noch geredet und diskutiert, heute sind die (jüngeren) Studenten meist völlig unpolitisch, da wird nur noch gelernt und konsumiert.
 
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