Anarchie - in der Praxis

Themenstarter
Beitritt
19.03.06
Beiträge
9.021
Einmal mehr habe ich mir ein Zitat von Phil ausgeliehen, ;) (Danke!) um damit einen Thread zu beginnen.

Das alles ändert aber nichts daran, dass die erstrebenswerte Staatsform, so denn das künstliche Gebilde "Staat" überhaupt seine Daseinsberechtigung hat, eigentlich die Anarchie ist, die absolute Selbstbestimmung, in der die Gemeinschaft Entscheidungen nicht mittels Mehrheit über Minderheit, sondern ausschliesslich im Konsens findet. Ent-Scheidung heisst im eigentlichen Wort-Sinn quasi etwas wieder zusammenfügen, also ent-scheiden.

Ich wiederspreche dem nicht. Im Gegenteil und füge einen Text von Erich Mühsam hinzu:

(Aus dem Vortrag: "Alle Macht den Räten!")

Die Auflockerung aller gesellschaftlichen Bindungen in dieser Zeit des Überganges, in der nichts feststeht als die Tatsache, dass nichts feststeht, macht den Anarchisten die ernste Auseinandersetzung darüber zur Pflicht, was für neue politische und wirtschaftliche Beziehungen sie als Inhalt der durch die soziale Revolution ermöglichten Ordnung des öffentlichen Lebens herbeiführen wollen. Solche Erörterungen sind viel wichtiger als das unfruchtbare Orakeln über den Zeitpunkt, wann unser aufbauendes Eingreifen nötig werden könnte. Es ist selbstverständlich damit zu rechnen, dass vorher ganz andre Kräfte zur Entfaltung kommen können als solche, die eine freiheitliche Gestaltung des Lebens anstreben. .... Wir müssen aber auch, mögen wir diesen Verlauf für wahrscheinlich halten oder nicht, den günstigsten Fall in Betracht ziehen, dass der ja jetzt schon vor aller Augen liegende Bankrott der Demokratie in Deutschland weder von einer halbkonstitutionellen Industriellen- und Militärdiktatur abgelöst wird, wie sie Pilsudski in Polen und Starhemberg in Österreich versucht und wie Hugenberg und der Stahlhelm sie haben möchten, noch von einer rein faschistischen Tyrannis nach Mussolinischem Muster, noch auch von einer Parteidespotie der Stalin-Kommunisten, sondern dass das revolutionäre Proletariat sich im Aufschwung seiner Kraft auf Selbständigkeit und Selbstverantwortung besinnt und daher den Kampf gegen jede Art Staat lenkt. Dann helfen uns keine Schlagwörter und keine roten und schwarzen Fahnen, dann müssen wir durch Rat und Zugriff praktisch bewahren, dass Anarchie ein wirklichkeitsträchtiger Daseinsbegriff ist und dass sich eine soziale Gesellschaft aufbauen lässt, die anders aussieht und anders handelt als ein Staat.
Erich Mühsam ⋅ Alle Macht den Räten! - La Banda Vaga
 
Und jetzt mal langsam zur Praxis ;):

Schon erschütternd: Zu Anarchie fällt den meisten Leuten hierzulande nichts als Chaos und/oder Steineschmeißen ein. Es scheint, dass die jeweilige bürgerliche Propaganda der letzten hundert Jahre ganz Arbeit geleistet hat. Und selbst die meisten Leute, die immerhin noch wissen, wer Bakunin war oder dass es in München eine kurzlebige anarchistische Räterepublik unter Beteiligung von Schriftstellern wie Erich Mühsam, Gustav Landauer und Ret Marut (alias B. Traven) gegeben hat, verweisen die unter dem Begriff Anarchie firmierenden und durchaus unterschiedlichen Vorstellungen einer "Nichtherrschaft" (schließlich die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs) ins Land der Träumerei.
taz, die tageszeitung :: Artikelseite

Historisches Lexikon Bayerns - Anarchismus
Bayern wird Räterepublik

In München einigten sich Anarchisten, SPD, Bauernbund und USPD auf die Bildung einer Räterepublik, die am 7. April ausgerufen wurde und ein Zusammentreten des Landtages verhinderte. Die Kommunisten lehnten die Räterepublik als ein "Werk abhängiger und unabhängiger Kompromißler und phantastischer Anarchisten" (Münchner KPD-Zeitung Rote Fahne) ab. »Das ganze scheint mehr eine Provokation der SPD zu sein. Sie sehen, daß unser Einfluß von Tag zu Tag größer wird und versuchen nun, künstlich von oben eine Räterepublik einzusetzen, die keinen genügenden Unterbau hat und leicht zu zerschmettern und vor den Massen zu diskreditieren ist. Das gäbe ihnen auch den gewünschten Anlaß, ihre Truppen in München einmarschieren zu lassen«, warnte Rote-Fahne Chefredakteur Leviné. Als Köpfe der Revolutionäre galten die anarchistischen Schriftsteller Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller.

"Läßt man mir ein paar Wochen Zeit, so hoffe ich etwas zu leisten, aber leicht möglich, daß es nur ein paar Tage sind, und dann war es ein Traum" (Landauer). Sein Traum dauerte nur eine knappe Woche. Erlasse wurden zuhauf formuliert, Maßnahmen angekündigt: Sofortige Behebung des Kohlemangels, Umstrukturierung des Bildungswesens, Kommissionen gegen Wohnungsnot... . Konkrete Handlungen folgten in dieser kurzen Zeit nur wenige. Neben der Beschlagnahme von leerstehenden Wohnungen war die Umstrukturierung der Presse die bedeutendste Maßnahme: Die weit verbreitete antisozialistische und antisemitische Hetze der bürgerlichen Presse wurde unterbunden, Berichte über die neue ungarische Räterepublik, Proklamationen, Texte und Holzschnitte zur Neuen Kunst und Kultur bestimmten für kurze Zeit die Zeitungen. Der Widerstand des Bürgertums, die elementare Not und politische Grabenkämpfe ließen keinen großen Handlungsspielraum.

Die Gestaltung lokaler Räteherrschaft unterschied sich in Bayern von Ort zu Ort und hing von den jeweiligen Gegebenheiten ab. Münchner Erlasse wurden in der Provinz teils befolgt, teils ignoriert, teils in veränderter Form herausgegeben. Die Regierung Hoffmann flüchtete inzwischen nach Bamberg und ersuchte die Reichsregierung um Unterstützung gegen die Münchner Räte. Schneppenhorst und die Truppen des Freicorpsführers Epp eroberten am 10. April Ingolstadt.
Raumzeit-Druckversion - ''...dann war es ein Traum'' - Räterepublik in Fürth - Gegenbewegung in Erlangen
 
Oben