Ambulante Behandlung statt Einweisung in die Psychiatrie! (?)

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Immer mehr Menschen werden heute wegen einer psychischen Störung ins Krankenhaus eingewiesen. Weil die Deutschen depressiver, schizophrener, gestörter werden? Nein, der Fehler liegt im System. Die Krankenkassen verweigern sich der Erkenntnis, dass man viele seelisch Kranke am besten zu Hause behandelt. Und die Kliniken verdienen prächtig an den Patienten auf Station. Dabei gibt es längst alternative Modelle. Doch die Bundesregierung will lieber ein Pauschalen-Modell (PEPP) einführen, das die schlechten Zustände zementiert. Die Anatomie eines Skandals.
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Er [Dr. Heissler: Team) bekommt das gleiche Budget für die Versorgung der Psychiatrie-Patienten wie früher, darf das Geld aber selbständig verwalten. Es ist eines der ganz wenigen Projekte dieser Art in Deutschland.
Damals wie heute erhält das Johanniter-Krankenhaus von den Krankenkassen sieben Millionen Euro pro Jahr für die Versorgung der psychiatrischen Patienten im Landkreis. Doch damals unterhielt Heißler 51 Psychiatriebetten auf drei Stationen – übrig geblieben ist davon nur noch eine Station mit 18 Betten. Vom eingesparten Geld hat er vier mobile Teams aufgebaut, die aus Ärzten, Pflegern, Psychologen und Sozialarbeitern bestehen und jeden Patienten bis zu zweimal täglich besuchen. Dieses „Home-Treatment“ gilt heute als Goldstandard für die Behandlung von Psychiatrie-Patienten.
Doch in Deutschland werden immer mehr Patienten mit Depressionen, Schizophrenien oder Psychosen auf psychiatrische Stationen eingewiesen.
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Während überall sonst im Krankenhaus, egal ob auf der Chirurgie, bei der Inneren Medizin, der Geburtshilfe oder der Neurologie heute nach Fallpauschalen abgerechnet wird, nach so genannten Diagnosed Related Groups (DRGs), gibt es in der Psychiatrie diese Pauschalen noch nicht. Da zählt noch der gute alte Pflegesatz aus der Zeit, bevor Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) das Klinikwesen zusammen mit ihrem Parteigenossen Karl Lauterbach reformierte.
Ein Krankenhaus erhielt 2014 pro Psychiatrie-Patient und Tag im Schnitt 240 Euro, in der Kinder- und Jugendpsychiatrie 400 Euro, in der Psychosomatik, dem bevorzugten Ort von Burn-out-Patienten, knapp 200 Euro. Verständlich also, dass die Kliniken Psychiatrie-Patienten gern aufnehmen.
Einen zweiten Grund für den Zulauf nennt Professor Mathias Berger, Ärztlicher Direktor in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Freiburg. Seine Diagnose: Die niedergelassenen Ärzte sind „massiv unterfinanziert“, wenn sie psychiatrische Patienten behandeln. So könne ein Hausarzt gerade mal 35 Euro im Quartal für die Behandlung eines Patienten abrechnen, ein Facharzt für Psychotherapie 50 bis 70 Euro. Plätze bei Psychotherapeuten dagegen sind rar, man muss oft monatelang auf seine Therapie warten. Also bleiben die niedergelassenen Ärzte übrig, für die sich die Behandlung nicht lohne und die deshalb die Patienten in die Kliniken überweisen.
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https://correctiv.org/recherchen/stories/2015/09/26/der-psychiatrie-skandal/

Wenn man Berichte aus psychiatrischen Kliniken hört, dann scheint es mir wesentlich vorteilhafter für beide Seiten - Therapeuten und Patienten - eine ambulante Versorgung von Psychiatrie-Patienen wie oben beschrieben anzusteuern.
Nur scheint das nicht überall als dringliche Angelegenheit angesehen zu werden.

Immerhin hat die Psychiatrische Klinik in Haar/Oberbayern auch eine Ambulante Versorgung eingerichtet:

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Haar, 11. Oktober 2013. Das kbo-Isar-Amper-Klinikum und DAK-Gesundheit bieten gemeinsam eine neue Versorgung für psychisch kranke Menschen in Oberbayern. Das Modellprojekt „stattkrankenhaus“ bietet eine „individuelle rundum“-Betreuung auch zu Hause. Dadurch verbessern sich die Lebensqualität und der Krankheitsverlauf der Betroffenen und die stationären Klinikaufenthalte werden kürzer. Die DAK-Gesundheit wurde für ihr Behandlungskonzept „stattkrankenhaus“ kürzlich mit einem bundesweiten Gesundheitspreis ausgezeichnet.

Krankschreibungen durch psychische Erkrankungen sind in Bayern seit dem Jahr 2000 um insgesamt 62 Prozent angestiegen.
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kbo-Isar-Amper-Klinikum, Klinikum München-Ost: Klinikum und DAK starten Projekt "stattkrankenhaus"

Grüsse,
Oregano
 
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PEPP verhindern – Für eine menschenwürdige Behandlung und ein gerechtes Entgeltsystem in der Psychiatrie und Psychosomatik

Hinter dem unauffälligen Begriff „Pauschalierendes Entgeltsystem Psychiatrie und Psychosomatik“ (kurz: PEPP) verbirgt sich eine grundlegende Neuausrichtung und ein Umbau der psychiatrischen Versorgungslandschaft mit gravierenden Folgen für die Versorgung insbesondere schwer(st) psy- chisch kranker Menschen.

Mit der Einführung des neuen Entgeltsystems vom Jahr 2013 würden die ärztlichen und pflegeri- schen Dokumentationen in den Einrichtungen der Psychiatrie und Psychosomatik zukünftig ent- scheidenden Einfluss auf die Höhe der Leistungsvergütung nehmen. Ziel des neuen Systems ist die Ablösung der bisherigen Bedarfsorientierung hin zu einer reinen Leistungsfinanzierung.
Trotz massiver Kritik und trotz ihrer Koalitionsvereinbarung mit dem Ziel, systematische Veränderungen des Vergütungssystems vorzunehmen, hält die große Koalition bisher noch an dem von der schwarz-gelben Vorgängerregierung auf den parlamentarischen Weg gebrachten neuen Psychiatrie-Entgeltsystem fest.

Durch den politischen Druck von Pflegepersonal, Ärzt/innen, Fachverbänden, Psychiatriebetroffenen, der Gewerkschaft ver.di, Attac Deutschland, dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte, medico international, dem Paritätischen Gesamtverband und vielen weiteren ist es gelungen, zunächst 2013 die Koalitionsvereinbarung und 2014 die verpflichtende Einführung des neuen Abrech- nungssystems um zwei Jahre bis zum 31.12.2016 nach hinten zu schieben. Dieses erfreuliche Einlenken des Gesetzgebers und des Bundesministers für Gesundheit, Hermann Gröhe (CDU), war verbunden mit dem Interesse an der Weiterentwicklung der psychiatrischen Versorgungslandschaft. Der Bundesgesundheitsminister hat dementsprechend im Mai dieses Jahres einen „strukturierten Dialog“ mit den Fach- und Wohlfahrtsverbänden begonnen, um über Alternativmodelle zu PEPP zu diskutieren.

Negative Folgen von PEPP
Das pauschalierende Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik (PEPP) widerspricht der empirisch gesicherten Erfahrung, dass in der Psychiatrie mit der Diagnose nur ca. 20 Prozent des erforderlichen Behandlungsaufwands zusammenhängt. Jede psychische Erkrankung verläuft höchst individuell und ist von den besonderen Lebensumständen und dem Lebensumfeld der Patientinnen und Patienten abhängig.
Mit PEPP kann der größte Anteil des Personalaufwands für Patient/-innen mit schweren akuten Erkrankungen – wie die 24-stündige krankenpflegerische Behandlung – nicht gemessen werden und geht damit nicht in die Berechnungen ein.
Das neue Entgeltsystem schafft daher den Anreiz, in der Pflege und Therapie möglichst wenig aufwendige Patient/innen stationär aufzunehmen, was sich negativ auf die Behandlung schwer psychisch kranker Menschen auswirkt.
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https://gesundheit-soziales.verdi.d...e076d000025/download/Positionspapier_PEPP.pdf

Hier ist ein Schreiben an den Bundesgesundheitsminister vorformuliert, den man dorthin schicken kann, um die Aktion "Weg mit PEPP" zu unterstützen:

https://www.attac.de/fileadmin/user...50902_PEPP_Schreiben_Gesundheitspolitiker.pdf

Grüsse,
Oregano
 
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