Europäischer Märchenkongress 2007 - Glosse

Themenstarter
Beitritt
19.03.06
Beiträge
9.021
Was beim Märchenkongress auf der Tagesordnung steht...

Jetzt raten Sie mal, wie eine Glosse über Märchen anfängt... Na? "Es war einmal"? Jaja, das haben Sie sich so gedacht, aber weit gefehlt. Es war nicht, es ist, und zwar höchst gegenwärtig und topaktuell. Auf dem großen Märchenkongress in Altenburg geht´s hoch her. Man kann sich ein buntes Parlament vorstellen aus Fröschen, Königen und wilden Schwänen, verzogenen Schwestern, goldenen Gänsen und Riesen. Parlamentspräsident Eisenhans maßregelt kurz das Dornröschen - dessen dauerndes Schnarchen stört - und präsentiert dann die Tagesordnung. Ganz vorne ein Antrag der Fortschrittspartei, den deren Vorsitzende Frau Holle leidenschaftlich vorträgt : "Schafft das dauernde 'Es war einmal´ ab! Diese Märchenfloskel lässt uns ewig gestrig erscheinen, wir wirken überholt und moralinsauer! Auch dieses schwülstige Ende: 'und sie lebten glücklich blablabla´ das glaubt uns doch niemand mehr! Wo ist der Realitätsbezug? Schaut doch mal auf die Scheidungsstatistiken! Wir müssen Authentizität bieten!" An dieser Stelle miauen, krähen, bellen und i-ahen die Bremer Abgesandten zustimmend, der Kater zieht einen Stiefel aus und klopft laut auf die Bank, das Löweneckerchen singt und springt, was das Zeug hält. Der Antrag wird angenommen, über die Umsetzung soll später mit den Brüdern Grimm verhandelt werden.
Weitere Tagesordnungspunkte:
Die Zwerge bitten um Umbenennung, sie möchten lieber - politisch korrekt - als "vertikal Herausgeforderte" bezeichnet werden. Schneewittchen unterstützt das Gesuch, bittet aber gleichzeitig darum, nicht immer auf die Wahrnehmung als naives Sexsymbol reduziert zu werden, das auf jedes noch so platte Apfel-Attentat reinfällt .
Über dieses Dokudrama im Bergbaumilieu, "Schneewittchen und die sieben vertikal Herausgeforderten", wird heute generell viel diskutiert: Denn die Stiefmutter bittet um Rehabilitierung, gemeinsam mit den Stiefmüttern von Aschenputtel, Hänsel und Gretel sowie Brüderchen und Schwesterchen: Ihr Image sei durch das ihnen zugeschriebene herzlose Verhalten ruiniert: Sie würden ihre Stiefkinder in den Tod schicken, wenn nicht sogar, wie im Fall Schneewittchen ihre Leber essen wollen; pure Verleumdung! In modernen Patchworkfamilien hätten Frauen ohnehin schon gegen das Misstrauen der Kinder anzukämpfen, ein Zusammenleben sei so kaum möglich.
Die guten Feen, wie immer um das Wohl der Jugend besorgt, beantragen zudem, die Spieglein-Spieglein-Passage abzuschaffen. Hier würde ein zu großer Druck aufgebaut, einem Schönheitsideal zu genügen, der für Heranwachsende nur schädlich sein könnte. Das Anliegen gegen das herrschende Diktat der Wohlgestalt unterstützen auch die Pechmarie und Aschenputtels zwei Stiefschwestern - "Klar, dass ihr dagegen seid, ihr hässlichen Puten!" höhnen daraufhin Schneeweißchen und Rosenrot. Es kommt zur Revolte, angeführt von Julia Timoschenko, wie sich Rapunzel jetzt nennt. Sie hat den Wolf auf ihre Seite gezogen, der keine Lust mehr hat, mit Wackersteinen im Bauch ertränkt zu werden und seine Gegner kurzerhand mit vergifteten Äpfeln aus dem Weg räumt. Hase und Igel müssen sich in glühenden Schuhen zu Tode tanzen, das tapfere Schneiderlein erschlägt sieben Schwäne auf einen Streich - das Parlament vertagt seine Sitzung eilig bis auf Weiteres. Aber zumindest ein Beschluss ist umgesetzt worden: der kitschige Märchenschluss ist passé, hier lebt niemand mehr glücklich bis an sein Ende.
Außer Dornröschen. Das schnarcht leise vor sich hin.

Autor: Lena Bodewein

NDR Info - Programm - Sendungen


Und wer sich über den tatsächlichen Märchenkongress informieren möchte, wird hier fündig:

Altenburg TV- Europäischer Märchenkongress

Willkommen auf den Seiten der "Europäischen Märchengesellschaft e.V."

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Oben