1961 - "Schmuggel" von West nach Ost

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Ich war noch keine drei Jahre Alt und schon ein wichtiges Mitglied einer Schmugglerbande.:D

Ich bin in einem kleinen Dorf am Südharz aufgewachsen. Da mein Vater neun Geschwister hatte, war die Verwandtschaft insgesamt sehr groß. Nur dass die Sektorengrenze und später dann die Grenze zur DDR, die in mehreren Dörfern lebende Verwandtschaft voneinander trennte.

Wie es hieß, fehlte es der Bevölkerung in der DDR an manchem.
Bis zur offiziellen Grenzschließung, am 13. 08. 1961, (ich war damals zwei Jahre alt, aber sehr reif für mein Alter;) ), gab es noch relativ viele Kontakte zwischen den im westlichen und den im östlichen Teil lebenden Verwandten. Entsprechend funktionierte die Versorgung, des auf der Ostseite lebenden Teiles der Familie, bis dahin zwar heimlich aber relativ reibungslos.

Sicher war meine Familie nicht die einzige, die solch einen, humanitär motivierten Schmuggel von West nach Ost betrieb.

Am 13. August sollte das dann ja vorbei sein. Die Mauer wurde in Berlin gebaut und die Grenze im Land geschlossen.
Allerdings gab es im Winter 61/ 62 – zumindest an dem Teil der Grenze, der unser Dorf, zwei Kilometer östlich umlief – noch keine Zäune und keinen Mienengürtel, sondern nur den noch nicht lückenlos bewachten Grenzstreifen. Also funktionierte, zumindest in diesem Winter, der „Schmuggel“ von wichtigen Gütern, wie Kleidung, Schokolade und Kaffee, noch ganz gut. Aber man musste viel mehr aufpassen, denn die motorisierten Grenzstreifen der DDR waren verstärkt worden und es hieß, die seien „überall“.

Ich erinnere mich noch sehr gut an ein Erlebnis, wobei ich nicht weiß, ob es eine „echte“ Erinnerung ist, oder mir später erzählt wurde, das ich hatte, als ich rund zweieinhalb Jahre alt war.

Die Erwachsenen in "meiner Schmugglerbande":D , das heißt, mein Vater und einer seiner Brüder, hatten mit Onkel Oskar, der „drüben“ mit seinem Teil der Familie lebte, einen Zeit- und Treffpunkt in der Abenddämmerung ausgemacht. Es war im Spätherbst und es galt, zehn mit Winterkleidung und Konsumgütern vollgepfropfte Säcke, über die Grenze zu bringen.

Onkel Oskar war damals Holzkutscher, das heißt, er konnte, relativ unverdächtig, mit seinem Pferdewagen in den Wald fahren.
Die Grenze durchschnitt damals ein größeres Waldgebiet, das „Kirchenholz“ genannt wurde.
Mein Vater hatte, als Betreiber einer Gärtnerei, die Erlaubnis, in bestimmten Teilen des Kirchenholzes, Fichtenzweige für die Kranzbinderei zu schneiden.
Das war an sich schon Tarnung genug. Um aber noch unauffälliger zu wirken, beschlossen mein Vater und mein Onkel, mich mitzunehmen. So ein reizender, blondgelockter Junge, der aussieht wie ein Mädchen, wird ja nicht zu „kriminellen“ Handlungen mitgeschleppt.

Jedenfalls fuhren wir, mit unserem Firmenwagen, auf dessen Ladefläche die Schmuggelsäcke lagen, von der Westseite her ins Kirchenholz, während sich Onkel Oskar schon den ganzen Nachmittag, vordergründig zum Zwecke der Arbeit, mit seinem Fuhrwerk auf der Ostseite des Waldes befand.
Es war sehr kalt, feucht und ein stärker werdender Nebel stieg auf und behinderte, grau wabernd, teilweise die Sicht.
In Grenznähe wurde unser Wagen zunächst auf einem Waldweg abgestellt und mein Vater und mein Onkel begannen am Rande einer Lichtung, Fichtengrün zu schneiden, während ich auf der Lichtung, mit direktem Blick auf das flache Tal, durch das die Grenze führte, spielte. Von weitem sahen wir schon Onkel Oskar in Grenznähe, mit seinem Pferdefuhrwerk herumfahren.

Offenbar wurden nach einer Weile DDR – Grenzsoldaten auf unsere Aktivitäten aufmerksam. Zwei Grenzer auf Motorrädern, kamen von der Ostseite an das Grenztal herangefahren und blickten, wie wir durch den Nebel mühsam erkennen konnten, durch Ferngläser zu uns herüber.
„Wink mal!“ rief mein Vater mir leise zu. Ich tat es und die Grenzer winkten zurück. Dann verschwanden sie wieder auf ihren Motorrädern.

Es war immer dunkler geworden. Mein Vater und mein Onkel hatten eine dünne Schicht Fichtengrün auf die Säcke im Wagen gedeckt. Dann bestiegen wir das Fahrzeug wieder und fuhren sehr langsam eine Schneise entlang, tiefer in den Wald hinein, bis wir ganz in die nähe einer besonders schmalen Stelle der Grenze kamen.
Ungefähr zwanzig Meter Wald trennten das Auto vom Grenzstreifen. So weit schleppten mein Vater und mein Onkel die Säcke und ich, der ich das ganze wohl für ein tolles Spiel im Wald hielt, lief munter mit.
Dann warfen die beiden Männer, immer wieder nach beiden Seiten Ausschau haltend, die Säcke einfach über den Grenzstreifen hinweg, an den gegenüberliegenden Waldrand.

Danach versteckten wir uns wieder zwischen den Bäumen und beobachteten, wie mein Onkel Oskar auf der anderen Seite mit seinem Fuhrwerk vorbeikam und hielt. Ebenfalls vorsichtig stieg er von seinem Bock und lud, immer wieder misstrauisch nach den Seiten blickend, einen Sack nach dem anderen auf seinen Pferdewagen.

Er winkte noch verstohlen in unsere Richtung, bestieg das Gefährt wieder und fuhr davon. Danach war ein Schmuggel auf diese Weise nicht mehr möglich.

Erst rund fünfzehn Jahre später habe ich meinen Onkel Oskar wieder gesehen.

Herzliche Grüße von
Leòn
 
Hallo Leon, vielen Dank für dein spannendes Erlebnis mit so ernsthaften Hintergrund. Da ich auf der "anderen Seite" wohnte, ist das für mich sehr gut nachfühlbar.

Viele Grüße von Anne
 
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