Die Gänseblume

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19.03.06
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Auf einer großen, blühenden Wiese lebte einmal ein Gänseblümchen.
Es war genauso klein, genauso zart wie all die anderen Gänseblumen, die ebenfalls auf der Wiese wuchsen.
Das einzige, was die kleine Blume von den übrigen tausenden unterschied, war ein kleiner, rosafarbener Fleck auf einem der Blütenblätter.

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Zwar war sich unser Gänseblümchen dieser Eigenart bewusst, war auch ein wenig froh über seine rosa Zier, aber trotzdem blieb es bescheiden und bildete sich nichts darauf ein.

Aber manche der anderen Gänseblumen waren neidisch und sie spotteten gelegentlich über ihre Artgenossin. Und selbst die stolzen, leuchtenden Butterblumen, die sonst nur geringschätzig über die winzigen „Unkräuter“ hinwegsahen, machten manchmal eine unfreundliche Bemerkung.

Manchmal, an besonders grauen Tagen, wurde die kleine Blume richtig trübsinnig darüber, dass es etwas gab, das sie derart von ihren Artgenossinnen unterschied.

Dann tröstete sie oft ihr netter Nachbar, der alte Herr Huflattich und sagte: „Tröste Dich, mein Kind! Gibt es eine dümmere Eigenschaft, als Missgunst und Neid? Sieh Dir Deine Kolleginnen an – eine steht neben der anderen und alle sehen sie gleich aus: weiß mit einer gelben Mitte. Aber nicht wie sie aussehen finde ich schlimm. Nein, es ist etwas anderes. Wenn man anders sein möchte als man ist, dann soll man sich nicht von Neid, Habgier oder anderen dummen Trieben leiten lassen. Eine Gänseblume kann nie zu einer Lilie werden. Aber zu einer schönen und klugen Gänseblume. Doch verstehe mich nicht falsch, meine Kleine! – Wirkliche Schönheit hat nichts mit einem hübschen Blatt, einem leuchtenden Kelch oder einem rosa Tupfer zu tun. Wahre Schönheit ist die, die einen zart umglänzt, wenn man sich selbst und alle anderen Wesen zu lieben gelernt hat!“

So sprach der weise Huflattich und das Gänseblümchen nahm sich seine Rede zu Herzen. Sie versuchte, die Gefühle und Gedanken der anderen zu verstehen und konnte bald selbst wegen der dümmsten Regungen nicht mehr böse oder traurig sein. Selbst den hochnäsigen Butterblumen, die sich in ihrer leuchtenden Pracht für unwiderstehlich hielten, versuchte sie nun Verständnis entgegen zu bringen.

Der Sommer hielt Einzug und bald wimmelte es auf der Wiese von Bienen, Zitronenfaltern, Hummeln, Tagpfauenaugen und vielen anderen Insekten.
Die bunten Schmetterlinge, die samtig schimmernden Bienen, tummelten sich am liebsten bei den goldleuchtenden Butterblumen, die schon aus der Ferne riefen: „Hierher, kommt hierher! Wir sind die Schönsten!“ und mit vor Verliebtheit taumelndem Flug kamen die Besucher heran und vermählten sich mit den gelben Schönheiten.

Längere Zeit blieben die zahllosen Gänseblümchen unbeachtet. Aber als die buntschillernden Gesellen die Lust an ihren Butterblumen verloren hatten, schienen sie neue Abenteuer zu suchen und ließen sich, mit süßlichem Gebrumm, bei den kleinen, weißblühenden Blumen nieder.

Die kleine Gänseblume, mit ihrem rosa Tupfer auf einem weißen Blütenblatt, bekam keinen Verehrer ab. Trotz der Besonderheit, die sie äußerlich schmückte. Ja, eben deshalb! Manch eitlem Pfauenauge schien dieser Schmuck doch zu anmaßend für eine schlichte Gänseblume zu sein.
Einige der Kavaliere hielten es sogar für eine ungesunde, ja krankhafte Erscheinung.

Da wurde das Gänseblümchen nun doch wieder ganz traurig und ließ voller Hoffnungslosigkeit die Blütenblätter hängen. Selbst die Ermunterungen des Herrn Huflattich fruchteten nicht mehr. „Ach“, rief die kleine Blume aus, „es ist doch schrecklich, wenn alle denken, dass man anders als die anderen ist!“

Da plötzlich hörte sie über sich ein leises Summen und sanftes Flügelschlagen. Ach wie oft hatte sich ihr schon eine dicke Hummel oder auch mal ein Falter genähert, sie dann abschätzend betrachtet und war dann wieder fort, zu einer der Kameradinnen geflogen.

Das Gänseblümchen wagte gar nicht aufzusehen. Da hörte es eine zaghafte Stimme, die schüchtern und sehr freundlich fragte: „Entschuldigung! Darf ich mich setzen?“
Da blickte die kleine Blume auf und gewahrte über sich einen Schmetterling: einen unscheinbaren, graubraunen, den das Gänseblümchen auf der Wiese noch nie gesehen hatte. Sie wurde ganz verlegen und der rosa Blatttupfer errötete und leuchtete stärker als je zuvor. Und sie fragte, noch misstrauisch: „Willst Du einen Scherz mit mir machen?“
Aber der Falter schlug bestürzt mit den Flügeln auf und ab und verneinte. Er erklärte, selbst ganz aufgeregt und mit vielen netten und schüchternen Worten, dass er sie sein ganzes Leben lang gesucht und s i e jetzt endlich gefunden habe.

Da entdeckte die Gänseblume einen kleinen, rosa Tupfer an der Flügelspitze des Schmetterlings. Sie lächelte beglückt und reichte ihm ihren gelben Mund zum Kuss.
 
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Noch ein paar Gänseblumenbilder:

Herzliche Grüße von
Leòn
 

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