Vorsicht vor einem Eiweißmangel!
aktualisiert am 27.3.2006
Von Henning Müller-Burzler
Da das Eiweiß der meisten rohen Lebensmittel besser vom Körper verwertet wird als erhitztes, führte diese Erkenntnis in bestimmten Ernährungskreisen zu der Annahme, dass man sich auch als vegan lebender Rohköstler keine Gedanken um einen möglichen Eiweißmangel zu machen braucht. Aufgrund meiner Forschungs- und Untersuchungsergebnisse, unserer Praxiserfahrung und der derzeitig allgemein gültigen ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse ist diese Annahme jedoch nicht richtig. Der Bedarf an essentiellen Aminosäuren ist bei einem Rohköstler zwar geringer, als wenn man sich überwiegend von erhitzten Nahrungsmitteln ernährt, dieser kann unter normalen Bedingungen jedoch nicht optimal durch eine ausschließliche Ernährung mit Nüssen, Ölsamen, Getreide, Obst, Gemüse, Wildkräutern und einer zusätzlichen Ergänzung mit ein paar Tabletten Mikroalgen abgedeckt werden -- auch dann nicht, wenn man als Erwachsener täglich mehr als 200 Gramm rohe Nüsse oder Ölsamen oder rohes, angekeimtes Getreide zu sich nimmt. Bestimmte Mikroalgen, wie zum Beispiel Spirulina und Chlorella, sind zwar ausgesprochen eiweißreich -- sie enthalten bis zu 60 % Eiweiß -- und weisen ein relativ hochwertiges Aminosäurespektrum auf, um damit das Eiweiß von normalen Getreide-, Nuss- und Gemüsemengen jedoch einigermaßen aufzuwerten, müsste man mit ihnen mindestens 10 bis 12 Gramm Eiweiß pro Tag zuführen. Das entspricht einer Menge von zirka 20 Gramm des getrockneten Algenpulvers oder 50 Tabletten à 400 mg. Dies ist nicht nur eine relativ teure Angelegenheit, sondern auch nicht unbedingt jedermanns Geschmack.
Solange man sich daher noch von verschiedenen pflanzlichen Lebensmitteln oder unterschiedlichen Lebensmittelkombinationen ernährt, sollte man als Vegetarier beziehungsweise Veganer mit einem Körpergewicht von 50 bis 70 kg täglich mindestens 20 bis 25 Gramm Eiweiß durch folgende Lebensmittel zuführen:
Milch (am besten Rohmilch, 600 ml)(1) oder
Joghurt oder Kefir (600 ml)(1) oder
Quark (= Topfen, 200 g)(1) oder
Weichkäse (Camembert, Brie, 100 bis 120 g)(1) oder
Hartkäse (80 bis 100 g)(1) oder
gekochte Hülsenfrüchte (100 bis 120 g Trockengewicht)(1) oder
Tofu (200 g)(1) oder
Sojamilch (500 ml)(1) oder
gedünstete, gesprosste Hülsenfrüchte, zum Beispiel aus Mungbohnen oder Linsen (400 g Rohgewicht)(1) oder
geröstete Erdnüsse(2) oder Erdnussmus(2) (80 bis 100 g)(1) oder
Nährhefepasteten (250 g)(1), konzentrierte Nährhefepasten oder andere Hefeprodukte
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Wiegen Sie mehr als 70 kg, erhöhen Sie die zu ergänzende Eiweißmenge zur Eiweißaufwertung um zirka 4 bis 5 Gramm pro 10 kg Körpergewicht und Tag. Selbstverständlich kann man die zu ergänzende Eiweißmenge von 20 bis 25 Gramm auch durch zwei oder drei verschiedene Lebensmittel täglich zuführen, zum Beispiel durch 100 bis 150 Gramm Tofu und 50 Gramm Hartkäse oder durch einen halben Liter Milch oder Joghurt und 50 Gramm Nährhefepastete.
Da aber auch rohes Eiweiß von Gemüse relativ hochwertig ist und dieses das Eiweiß von Getreide, Nüssen und Ölsamen teilweise aufwerten kann, lässt sich auch mit entsprechend großen Mengen dieser Lebensmittel eine einigermaßen gute Eiweißversorgung des Körpers erreichen. Dafür sollte man dann aber als Erwachsener zusätzlich zum Getreide beziehungsweise zu den Nüssen oder Ölsamen pro Tag mindestens zwei Kilogramm verschiedene Gemüsesorten (Wurzel-, Blatt- und Fruchtgemüse) essen oder mindestens 1,5 bis 2 Liter möglichst frisch gepressten Gemüsesaft trinken.
Zwar ist auch das Eiweiß von rohen Früchten (Obst) relativ hochwertig, jedoch enthalten die meisten ungetrockneten Früchte nur sehr wenig Eiweiß. Zu den eiweißreichsten ungetrockneten Obstsorten gehören unter anderem Feigen, Bananen, Orangen und viele Beeren. Um das Eiweiß von Getreide, Nüssen oder Ölsamen allein damit aufzuwerten, muss man von diesen eiweißreicheren Sorten dann mindestens zwei bis drei Kilogramm reines Fruchtfleisch oder entsprechend große Mengen an frisch gepresstem Fruchtsaft pro Tag zu sich nehmen.
Nur so ist eine ausreichende Versorgung mit allen notwendigen Aminosäuren gewährleistet. Dasselbe wird natürlich auch erreicht, wenn man die tägliche Nahrung mit einer entsprechenden Mindestmenge an anderen tierischen Eiweißquellen, wie Fleisch (100 g)(1), Fisch (100 g)(1) oder Eiern (drei Hühnereier)(1), ergänzt.
Es ist allerdings nicht notwendig, die empfohlenen Lebensmittel zur Eiweißergänzung beziehungsweise -aufwertung gemeinsam mit anderen Lebensmitteln in einer Mahlzeit zu essen. Man kann sie also auch für sich allein essen. Entscheidend ist nur, dass die an einem Tag verzehrten Lebensmittel insgesamt eine möglichst hohe Gesamteiweißwertigkeit (siehe Kapitel 10 in "Auf den Spuren der Methusalem-Ernährung, Gesund und allergiefrei") erreichen.
Grundsätzlich kann man natürlich auch mehr als die angegebenen täglichen Mindestmengen zu sich nehmen. Dies ist vor allem dann notwendig, wenn man regelmäßig anstrengende körperliche Tätigkeiten verrichtet oder Kraft- beziehungsweise Leistungssport betreibt. Die empfohlene Mindestmenge von 20 bis 25 Gramm Eiweiß zur Eiweißaufwertung mit den in der Liste aufgeführten Lebensmitteln sollte dann erhöht, möglicherweise sogar verdoppelt werden. Man beachte jedoch, dass eine zu hohe Eiweißzufuhr von deutlich mehr als 1,25 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag bei einer Person mit Normal- oder Übergewicht auf Dauer ebenso ungesund ist wie zu wenig Eiweiß in der Nahrung.
Der Tagesbedarf für Eiweiß beträgt bei Erwachsenen mit Ideal- bis Normalgewicht und normaler Tätigkeit ungefähr 0,75 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht.
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Wer sich mehrere Wochen bis Monate ausschließlich von verschiedenen pflanzlichen Lebensmitteln ohne die empfohlene Eiweißergänzung beziehungsweise die entsprechend großen Gemüse- oder Fruchtmengen ernährt, kann je nach Ernährungsweise einen leichten bis mittelschweren oder sogar starken Eiweißmangel in einzelnen oder mehreren Organen beziehungsweise Körperbereichen aufweisen -- auch dann, wenn die Eiweißwerte im Blut noch normal sind. Dies betrifft neben vegan lebenden Rohköstlern vor allem stärkere Allergiker, wenn sie auf tierische Lebensmittel, Hülsenfrüchte und deren Produkte, Erdnüsse und Nährhefeprodukte allergisch reagieren und diese über einen größeren Zeitraum in ihrer Ernährung meiden. Ein länger anhaltender Eiweißmangel führt grundsätzlich immer zu einem schlechteren Zellstoffwechsel und somit zu einer Unterfunktion der betroffenen Regionen. Ohne eine ausreichende Eiweißversorgung können nämlich auch Vitamine, Mineralien und andere Nährstoffen nicht richtig in die Zellen aufgenommen und in ihnen verwertet werden. Andererseits verschlacken die Zellen dadurch auch leichter, weil die Entgiftungsvorgänge ebenfalls abnehmen. Körperliche Fehlfunktionen, Entwicklungs- und Wachstumsstörungen bei Kindern sowie verschiedene Erkrankungen können dann die Folge sein. Außerdem altert man schneller.
Allergiker sollten daher eine möglicherweise geschwächte Verdauungskraft aufbauen und den Körper entgiften, wodurch sie nach und nach tierische und eiweißreichere pflanzliche Lebensmittel wieder vertragen (ausführlich beschrieben in den Kapiteln 18 bis 21 in "Auf den Spuren der Methusalem-Ernährung, Gesund und allergiefrei"). Vorübergehend sollten sie das Nahrungseiweiß mit denjenigen Lebensmitteln aufwerten, auf die sie am wenigsten allergisch reagieren. Unter Umständen kann es sich dabei dann auch um bestimmte Fleischsorten oder Fisch handeln. Vegetariern kann man in einem solchen Fall nur empfehlen, die Nahrung so lange mit einer geringen Menge von 50 bis 100 g Fleisch oder Fisch pro Tag zu ergänzen, bis Milchprodukte, Hülsenfrüchte, Tofu oder Nährhefeprodukte wieder vertragen werden. Können aufgrund der allergischen Reaktionen keine der zur Eiweißaufwertung empfohlenen Lebensmittel gegessen werden, auch nicht im mehrtägigen Rotationsverfahren, sollte man darauf selbstverständlich so lange verzichten, bis sie wieder einigermaßen gut vertragen werden. In der Zwischenzeit kann man aber auch entsprechende Aminosäurepräparate einnehmen, da Allergien auf freie Aminosäuren in der Regel nicht vorkommen (die Firmen KAL und Nature´s Plus haben solche Präparate im Programm, siehe die Adressenliste zu "Das Handbuch für Allergiker" - mehr zur Anwendung von Aminosäurepräparaten ab Dezember 2003 auf dieser Homepage), und man sollte sich dann so gesund und vitalstoffreich wie möglich ernähren, weil dadurch die Auswirkungen des relativen Eiweißmangels so gering wie möglich gehalten werden können.
Dennoch gibt es eine Ernährungsweise, sozusagen einen "Trick", wie man sich ausschließlich von bestimmten rohen pflanzlichen Lebensmitteln ohne die empfohlene Eiweißergänzung völlig gesund ernähren kann. Ausführlich gehe ich darauf im zweiten Band von "Auf den Spuren der Methusalem-Ernährung" und auf unseren Ernährungsseminaren ein.
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Die wichtigsten Eiweiß-Mangelsymptome
Aminosäuren (= Eiweißbausteine, Eiweißverdauung siehe Kapitel 16 in "Auf den Spuren der Methusalem-Ernährung, Gesund und allergiefrei") gehören zu den wichtigsten Bausteinen unseres Körpers, da aus ihnen körpereigenes Eiweiß aufgebaut wird, das für alle Zellfunktionen, den gesamten Stoffwechsel und ein gesundes Immunsystem unentbehrlich ist. Wird insgesamt zu wenig Eiweiß aufgenommen oder enthält die Nahrung einen relativen Mangel an einer oder mehreren essentiellen Aminosäuren, kann das körpereigene Eiweiß nicht mehr ausreichend hergestellt werden. Da körpereigenes Eiweiß in Verbindung mit ungesättigten Fettsäuren unter anderem für eine gesunde und gut funktionierende Zellmembran notwendig ist, führt ein beginnender Eiweißmangel primär zu einer schlechteren Zellernährung, vor allem jener Zellen beziehungsweise Organe, die genetisch oder psychisch bedingte Schwachstellen des Körpers darstellen. Jeder Mensch hat solche Schwachstellen, weshalb die Reaktionen auf einen beginnenden Eiweißmangel individuell unterschiedlich aussehen können. Gehört zum Beispiel das Zahnfleisch zu den genetisch bedingten Schwachstellen, kann es trotz ausreichender Zufuhr und Resorption von Vitamin C, Zink und anderen Nährstoffen zu einer Mangelsituation in den betroffenen Zellen und somit zu Zahnfleischschwund und Parodontose kommen. Ein anderes Symptom des Eiweißmangels kann auch ein vorzeitiges Altern und Ergrauen der Haare sein. Ist der Eiweißmangel stärker, nehmen im entsprechenden Verhältnis auch die Eiweiß-Mangelsymptome zu.
In der nachfolgenden Liste sind die wichtigsten Eiweiß-Mangelsymptome aufgeführt. Sie entstehen immer dann, wenn längere Zeit zu wenig Gesamteiweiß aufgenommen wird oder ein Mangel an essentiellen Aminosäuren vorhanden ist. Je nach Intensität des Eiweißmangels in Verbindung mit der allgemeinen Ernährungsweise und der individuellen Konstitution beziehungsweise Stoffwechselsituation können nur wenige oder auch mehrere Symptome gleichzeitig in unterschiedlicher Stärke auftreten:
körperliche Schwäche
Konzentrations- und Gedächtnisstörungen
Muskelabbau
ungewollter Gewichtsverlust
Eine Verminderung von Bluteiweißen, insbesondere von Albuminen (Hypalbuminämie) führt unter anderem zu Wasseransammlungen (Ödemen) im Bindegewebe, zum Beispiel an den Augenlidern oder Extremitäten, und im fortgeschrittenen Stadium zur Bauchwassersucht (Aszites). Aufgrund dieser Wassereinlagerungen kann es auch zur Gewichtszunahme kommen.
Verdauungsbeschwerden (Blähungen, weiche Stühle bis Durchfälle, Verstopfung, Darmflorastörungen etc.) infolge eines Mangels an Verdauungsenzymen (Enzyme bestehen hauptsächlich aus Aminosäuren, weshalb ein länger anhaltender Eiweißmangel auch zu einem allgemeinen Enzymmangel im Körper führt.)
Schwächung des Immunsystems mit zunehmender Anfälligkeit für akute und chronische Infektionskrankheiten (siehe auch den Artikel "Die chronische Epstein-Barr-Virusinfektion")
Funktionsstörungen von Organen
Stoffwechsel- und Entgiftungsstörungen der Leber -- die Fähigkeit der Leber, gelöste Gifte und Stoffwechselendprodukte auszuscheiden, verringert sich
Abnahme der Entgiftungsfunktionen des gesamten Körpers
Zahnfleischschwund, Parodontose
Haarausfall, frühes Ergrauen der Haare
vorzeitiges Altern
Entwicklungs- und Wachstumsstörungen bei Kindern
Verdickung der Hornschicht der Haut (Hyperkeratosis) zum Beispiel an den Fußsohlen sowie Finger- und Ellenbogengelenken
Menstruationsstörungen bis Ausbleiben der Menstruationsblutung (Amenorrhoe) und Unfruchtbarkeit
Verringerung der Libido sowie der Samenbildung
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Bei zu geringer Tryptophanaufnahme (= eine der acht essentiellen Aminosäuren) und gleichzeitigem Mangel der Vitamine B2, B6 und Folsäure kann ein Niacinmangel (Niacin = Nikotinsäureamid = Vitamin B3) entstehen(3). Als klassische Niacin-Mangelkrankheit ist Pellagra ("kranke Haut") bekannt, die unter anderem bei einer einseitigen Ernährung mit Mais auftreten kann. Hauptsymptome des Niacin- und damit auch des Tryptophanmangels sind:
Hautentzündungen (Dermatitis) und Hautschuppungen
starke Pigmentierung der Haut an sonnenexponierten Stellen
Verdauungsstörungen und Durchfall (Diarrhoe)
Nervenentzündungen
nervlich bedingter Muskelschwund
psychische Störungen bis hin zu Psychosen und "geistigem Zerfall" (Demenz)
Wichtige Anmerkung: Alle aufgeführten Symptome können grundsätzlich auch andere Krankheitsursachen haben!
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Fußnote 1: Die in Klammern angegebenen Mengen der verschiedenen Lebensmittel zur Eiweißergänzung beziehungsweise Eiweißaufwertung enthalten zirka 20 bis 25 Gramm Eiweiß und gelten für Erwachsene. Kinder benötigen entsprechend ihres Körpergewichtes zwar weniger Eiweiß als Erwachsene; da der relative Eiweißbedarf von Kindern jedoch höher als von normal arbeitenden Erwachsenen ist, sollte man ihnen dennoch nicht zu wenig Eiweiß geben. Sie benötigen es für das Wachstum und ihre geistige Entwicklung.
Fußnote 2: Erdnüsse sollten immer geröstet beziehungsweise erhitzt worden sein, da rohe Erdnüsse, ebenso wie rohe Hülsenfrüchte, ungesund für unsere Darmflora sind. Erdnüsse gehören botanisch betrachtet zu den Hülsenfrüchten.
Fußnote 3: Bei ausgeglichener Proteinzufuhr kann vom Körper unter Anwesenheit von Vitamin B2, B6 und Folsäure aus der Aminosäure Tryptophan Niacin (Vitamin B3) synthetisiert werden (Quelle: "Mit Nährstoffen heilen" von Norbert Fuchs, Ralf Reglin Verlag, Köln 1999 [leider momentan vergriffen, Stand: 08/2003]).