der kleine Hypochonder zwischendurch...

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Hypochondrie aus https://www.zeit.de/2005/31/M-Hypochondrie?page=all]"die Zeit" Wissen DIE ZEIT 28.07.2005 Nr.31

Hypochondrie

Ist da was?

Diffuse Ängste und unerklärbare Symptome treiben Patienten und Ärzte zur Verzweiflung – und unser Gesundheitssystem in den Ruin. Wie man mit rätselhaften Krankheiten umgeht, machen andere Länder vor

Von Harro Albrecht

Ein normaler Arbeitstag bringt Wolfgang Kreischer viele undurchsichtige Fälle. Am Morgen sitzt jene 80-jährige Patientin vor ihm, die seit Jahren über eine Art rheumatischen Schmerz klagt. Das Problem ist nur, dass die Rheumatologen nichts Ungewöhnliches finden können, auch die Kardiologen und Gastroenterologen nicht. »Die Schmerzen sind rein psychisch«, sagt Kreischer, »aber ich habe noch nicht herausgefunden, woran es liegt.« Der alten Dame folgt zum wiederholten Mal das krankheitsbesorgte Ehepaar. Er mit Migräne, sie mit Gastritis. Eigentlich liege privat einiges im Argen, »doch das darf ich nicht ansprechen«, sagt Kreischer. Gegen Mittag schaut noch die bosnische Familie vorbei: Hier das Stechen in der Brust, Herr Doktor, und dort der Bauch, der schmerzt. Seit Jahren wollen die Bosnier nicht einsehen, dass sie keine organische Krankheit plagt, sondern eine posttraumatische Belastungsstörung. »Das alles kostet viel Zeit und Einsatz«, sagt Kreischer, der auch Vorsitzender des Hausarztverbandes von Berlin-Brandenburg ist. »Wenn von der Sorte zwei oder drei kommen, dann ist der Tag gelaufen.«

Der Tag ist häufig gelaufen. Unerklärliche Beschwerden und hypochondrische Befürchtungen sind nicht nur in Kreischers Praxis der Normalfall. »20 bis 50 Prozent aller Patienten, die zum Arzt gehen, sind organisch nicht krank«, sagt Winfried Rief, Psychosomatiker von der Uniklinik Marburg. Findet sich keine organische Diagnose, beginnt häufig ein Teufelskreis, der Ärzte zur Verzweiflung treibt, Patienten unnötig belastet und am Ende unser Gesundheitssystem Unsummen kostet. Die hartnäckigsten Fälle sind dabei die echten Hypochonder, die jedes Symptom als Vorbote einer tödlichen Erkrankung deuten. Bis zu 100-mal im Jahr suchen diese Bedauernswerten ärztlichen Rat. Für sie wird der Gang zum Mediziner zu einer echten Sucht, der mit hausärztlichen Mitteln kaum mehr beizukommen ist (Die Infarkte des Herrn H.).

Mancher Patient gilt nur noch als »der Fall mit der dicken Akte«

Die echte Hypochondrie ist zwar das prominenteste Leiden an unerklärlichen Symptomen; viel häufiger aber sind die alltäglichen Gesundheitsängste und die so genannten somatoformen Störungen, deren Ursachen sich im Dunkel des geheimnisvollen Zusammenspiels von Psyche und Physis verlieren. Unter Ärzten kursieren für solche Patienten mit realen Symptomen, aber ohne organischen Befund oft wenig schmeichelhafte Bezeichnungen – da ist vom »Fall mit der dicken Akte« die Rede oder vom »schwarzen Loch«. Dahinter verbirgt sich oft nur Hilflosigkeit. Ihre Ausbildung bereitet die Ärzte auf solche Grenzfälle nicht gut vor.

Das Scheitern der schulmedizinischen Kunst an diesen Phänomenen vergiftet die Beziehung zwischen Arzt und Patient. Gern suchen die einzelnen Akteure die Schuld bei ihrem jeweiligen Gegenüber. Kranke klagen über unfähige Mediziner, diese schimpfen auf ihre wehleidigen Patienten, beide zusammen auf die Gesundheitspolitik, die ihnen die Leistungen kürzt, während Politiker und Krankenkassen wiederum den massiven Missbrauch ihres Systems durch »Gesundheitsschmarotzer« beklagen. Tatsache aber ist, dass wir alle unseren Teil zu dem Missstand beitragen: Patienten fordern heute mehr als in den vergangenen Jahrzehnten. Pharmafirmen und Medien schüren die Angst vor der Krankheit wie nie zuvor. Das bringt die Ärzte in Zugzwang. Diese trauen oft ihren Befunden nicht mehr und halten den Patienten mit immer neuen Untersuchungen in der Schwebe.
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Die Odyssee durch die Arztpraxen beginnt mit einer kleinen Disharmonie. Was habe ich denn da? Bauchschmerzen, Druck im Kopf, Ziehen im Rücken…? Fragt man ältere Menschen, ob sie am Vortag Beschwerden hatten, geben zwei Drittel an, sie seien müde gewesen, hätten sich schwach gefühlt oder seien wackelig auf den Beinen gewesen. Je drängender die Angst, desto häufiger gehen die Menschen zum Doktor. In Europa sind wir in Sachen Gesundheitsangst gar Spitzenreiter: Deutsche konsultieren nahezu doppelt so häufig einen Arzt wie Franzosen, Niederländer, Schweden oder Dänen.

»Dabei sind körperliche Missempfindungen etwas ganz Normales«, sagt der Psychosomatiker Winfried Rief. Jeder fühlt mal ein Zwicken im Darm, einen Druck in der Brust oder das Reißen in der Flanke. Entscheidend aber ist, wie die Signale aus dem eigenen Körper bewertet werden. Und da findet in der trügerischen Sicherheit komfortabler Zivilisationen offenbar ein Wertewandel statt. »Das Bewusstsein, dass auch ein gesunder Körper ständig Missempfindungen produziert, geht kulturell momentan etwas verloren«, drückt es Rief vorsichtig aus. Will sagen: Was früher einfach hingenommen wurde, wird heute schnell zu einer veritablen Malaise stilisiert. Über die Gründe für diese Entwicklung kann man nur spekulieren: Liegt es daran, dass wir heute weniger konkreten Bedrohungen ausgesetzt sind – und uns eher vor schwer fassbaren Risiken (Elektrosmog, Radioaktivität, Lebensmittelkeimen) fürchten? Viele Menschen scheinen heute ein perfektes Wohlbefinden nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation als Normalzustand anzusehen – und suchen bei der geringsten Störung des Idealzustands medizinischen Rat.

Das medizinische Paradox: Die einen kommen zu oft, die anderen zu spät

Dabei soll nicht verschwiegen werden, dass das Verhältnis der Bundesbürger zur Medizin von einem paradoxen Missverhältnis gekennzeichnet ist: Die einen Patienten kommen zu oft, die anderen zu spät. So kennen zum Beispiel die meisten Laien die Zeichen eines Herzinfarkts – dennoch wartet die Hälfte aller Patienten mit typischen Symptomen viel zu lange, bis sie den Notarzt ruft. Auf der anderen Seite bevölkern die Menschen die Praxen wegen Lappalien.

Die häufigsten Gründe für einen Arztbesuch sind Allerweltssymptome wie Bauch-, Brust-, Herz- oder Rückenschmerz, Schwindel und Schweißausbrüche. Die wahrscheinlichste Ursache dafür ist fast immer eine nicht organische Erkrankung, die von psychischen Störungen überlagert wird. »Selbst wenn man da schöne organmedizinische Erklärungen anbietet, sind diese in der Mehrzahl der Fälle falsch«, sagt Winfried Rief. Hausärzte wissen aus Erfahrung, dass viele dieser Symptome auch ohne Behandlung nach einiger Zeit wieder von selbst verschwinden. Doch die Mediziner sind in einer Zwickmühle: Sie dürfen schon aus rechtlichen Gründen keine schwerwiegenden Leiden übersehen – auch wenn zu viel Diagnostik teuer ist und beim Patienten falsche Befürchtungen wecken kann.

Statt den Leidenden also mit beruhigenden Worten nach Hause zu schicken, setzen sie ihn vorsichtshalber auf den Medizin-Parcours. Zunächst ordnet der Doktor eine ganze Reihe Bluttests an. Fördern diese nichts zutage, und kommt der Patient nach zwei Wochen wieder, fährt man schwerere Geschütze auf. Nun wird der Patient nervös: Hat er etwa Krebs, ist es ein Magengeschwür oder eine bösartige Blutbildveränderung? Nach Monaten kommt schließlich der abschließende Bescheid: »Jetzt haben wir alles untersucht, ohne Ergebnis – bei Ihnen ist es wahrscheinlich psychosomatisch.«

Für den Arzt ist damit der Fall meist erledigt. Der Hilfesuchende hingegen, von dieser plötzlichen Wendung überrascht, hält die Diagnose für eine Ausflucht und besteht auf gründlicher Ursachenforschung. Doch für einfühlsame Gespräche und Erörterung der Lebensumstände bleibt in der Praxis kaum Zeit. Was für den Arzt zählt, ist die Zahl der behandelten Kranken, nicht die Dauer der Behandlung. Ganze 4,3 Minuten nimmt sich der deutsche Hausarzt im Schnitt seiner Patienten an – in anderen Ländern wie der Schweiz dagegen sind es 8,7 Minuten. Die Folgen dieser knappen Aufmerksamkeit hat der Psychologe Peter Salmon bei britischen Ärzten (die mit 4,7 Minuten ähnlich zackig wie die deutschen praktizieren) nachgewiesen. Als Salmon das Gespräch zwischen 420 Patienten mit unerklärlichen Symptomen und ihren Ärzten belauschte, zeigte sich: Obgleich die Patienten schwierige Lebensumstände andeuteten, gingen die Ärzte darauf nicht ein. Lieber ordneten sie weitere Untersuchungen an und überwiesen den Problemfall zu irgendeinem Spezialisten.

So kommt es, dass die Fachärzte von Menschen belagert werden, die über chronische Symptome klagen, für die sich aber keine auffälligen Organbefunde entdecken lassen. Diese somatoformen Störungen machen das ärztliche Tagwerk schwer. »Warum behandeln Ärzte Menschen mit somatoformen Störungen so ungern?«, fragt sich und seine Zunft der australische Psychiater Saxby Pridmore im Fachblatt Australian Psychiatry. Der wichtigste Grund sei wahrscheinlich, dass Ärzte nicht akzeptieren wollen, dass diese Art Störung vom Kranken nicht willentlich beeinflusst werden kann.

Wer häufig untersucht wird, ist am Ende richtig krank
 
Wie man schwierigen somatoformen Fällen besser begegnet, lehrt Winfried Häuser. Seit zehn Jahren bietet der Facharzt für Innere und Psychotherapeutische Medizin am Klinikum Saarbrücken seinen Kollegen Weiterbildungskurse an. Wie etwa geht man mit einem Patienten um, der mit rätselhaften Magen-Darm-Beschwerden beim Gastroenterologen erscheint, bei dem die Darmspiegelung aber keinen Befund erbringt? »Sagen Sie nicht: ›Sie haben nichts‹«, empfiehlt Häuser den Ärzten. Besser sei der Hinweis, die Patienten hätten einen »Reizdarm«. Dieser könne durch verschiedene Faktoren entstehen, durch Nahrungsmittel oder aber auch durch innere Anspannung und Stress. »Haben Sie bei sich beobachtet, was Ihre Beschwerden auslöst oder verstärken kann?«, wäre eine Frage, die das Gespräch auf die richtige Spur lenkt. Aber solche Hinweise würden selten gegeben. Auch werde nicht erfragt, ob der Patient mit weiteren Symptomen schon bei anderen Fachärzten gewesen sei. »Die Patienten, die ich sehe, sind x-mal untersucht worden – insbesondere die Privatversicherten.« Dabei mache das häufige Untersucht-Werden oft erst richtig krank, kritisiert Häuser. Sein Fazit ist daher an Deutlichkeit kaum zu überbieten: »Das medizinische System selbst ist sicher ein chronifizierender Faktor.«

Und das gilt nicht nur für die Gastroenterologie. So wie sie den Reizdarm, kennt jede Fachdisziplin ihre eigene somatoforme Störung: Bei den Urologen ist es die Reizblase, beim Gynäkologen der chronische Unterbauchschmerz, beim Rheumatologen die Fibromyalgie und bei den Neurologen der Spannungskopfschmerz. Auslöser können seelische Überforderungen sein oder auch vorübergehende Erkrankungen, welche die Sensibilität für Missempfindungen aus dem Körper erhöhen, was wiederum die Selbstregulation der Körperfunktionen stört. Dieses Zusammenspiel zwischen Geist und Körper kann sich verselbstständigen und zu Herzrasen, innerer Unruhe, Schlaflosigkeit und Nervosität führen. Schon ohne große Untersuchung sind solche Patienten auffällig. »Patienten mit funktionellen Darmstörungen schildern ihre Beschwerden oft mit größerem Leidensdruck und ausladender als Tumorpatienten«, sagt Winfried Häuser.

Ein längeres Gespräch mit dem erstbehandelnden Arzt könnte viele dieser chronischen Verläufe verhindern. Auch Alibi-Diagnosen wie »Cephalgie« (Kopfschmerzen) oder »Dorsopathie« (Rückenschmerzen) bestärken den Patienten fälschlicherweise darin, dass irgendetwas an seinen Organen nagt. Wurde etwas übersehen, ist es nicht doch Krebs? Wenn dann monatelang ergebnislos weiter gesucht wird, sind die Patienten gedanklich ganz darauf eingestellt, dass irgendetwas körperlich noch nicht erkannt ist. Zwischen Arzt und Patient tut sich ein Graben auf. »Stell mir endlich eine Diagnose«, fordert der Patient, und der Arzt denkt: »Glaub mir endlich, dass ich dich ordentlich untersucht habe.« Aus diesem Dilemma befreit sich der Patient nicht selten durch den Arztwechsel, das so genannte Doktor-Hopping. Beim nächsten Arzt beginnt das Drama von vorn.

In Skandinavien wird dieser Teufelskreis schneller durchbrochen. Dort ist das Bewusstsein verbreiteter, dass es mehr gibt als körperliche Erkrankungen. Die Ärzte sind miteinander vernetzt und stimmen ihre Strategie für die einzelnen Patienten besser ab. Dem deutschen Mediziner aber bringt die Diagnose »funktionelle Störung« keinen Ruhm ein. »Wenn der Assistenzarzt in der Uniklinik den Verdacht äußert, ein Leiden sei psychosomatisch, wird die Mehrzahl der Chefärzte diesen Arzt dafür rügen«, sagt der Psychosomatiker Winfried Rief, »einen super Ruf wird man hingegen erwerben, wenn man etwas ganz Seltenes entdeckt hat.«

Auf diese Weise leistet auch die Medizin ihren Beitrag dazu, aus der leichten Gesundheitsangst irgendwann eine somatoforme Störung oder als Spezialfall die echte Hypochondrie entstehen zu lassen. Den Hypochonder quält nicht so sehr das Symptom, sondern seine Angst vor möglichen tödlichen Krankheiten. Hinter jedem Darmzwicken lauert der vernichtende Krebs, hinter jedem Herzklopfen der nahe Herztod. Sie sind keine eingebildeten Kranken, denn sie bilden sich die Symptome nicht ein, sie spüren sie wirklich. Auch Menschen mit schwerer Krankheitsangst können die Signale aus dem Körper nicht mehr adäquat bewerten und in den Kontext stellen.

Zwar kennen wir alle solch hypochondrische Befürchtungen – sie sind in gewisser Weise sogar überlebensnotwendig. Doch meistens dauert die Angst nur ein paar Sekunden oder Minuten. »Na gut«, beruhigt man sich, »wenn das in drei Tagen immer noch so schlimm ist, geh ich zum Arzt.« Doch diese Fähigkeit, sich selbst auf die Warteliste zu setzen, hat der echte Hypochonder verloren. Er ängstigt sich ohne Unterlass. Beispielsweise meidet er Sport, weil dieser ja die angenommene Krankheit verschlimmern könnte; dann wiederum fühlt er sich in seinen schlimmsten Annahmen bestätigt, wenn er völlig untrainiert beim Treppensteigen außer Atem kommt.

Entgegen landläufiger Meinung ist die Hypochondrie keine Willensschwäche. Die Betroffenen sind Gequälte, die ihre Ängste nicht einfach nach dem Motto »Reiß dich mal zusammen« abstellen können. Laut Definition im offiziellen Katalog der Krankheiten ICD 10 muss die Krankheitsangst mindestens ein halbes Jahr andauern, dürfen sich Betroffene nicht durch Untersuchungen beruhigen lassen und muss ihr Leben beeinträchtigt sein. Schätzungsweise 1,5 Prozent aller Patienten, die zum Hausarzt kommen, sind von dieser schwersten Krankheitsangst betroffen. Das klingt nach wenig. Aber bei 59000 praktizierenden Hausärzten mit jeweils 1000 Patientenkontakten im Quartal kommt eine Million Individuen zusammen.

Ignoriert und falsch behandelt, kommen hypochondrische Störungen – ebenso wie Gesundheitsängste und somatoforme Beschwerden – das Gesundheitssystem teuer zu stehen. Nicht selten führt ein langer Leidensweg am Ende in die Frühberentung. Bei »einem Drittel bis der Hälfte aller Fälle von Frühberentung«, sagt der Psychosomatiker Winfried Rief, spielten psychische Faktoren »eine wesentliche Rolle«. Doch auch der vorzeitige Ruhestand erlöst die Betroffenen nicht. Nun sitzen sie zu Hause, sind unglücklicher als zuvor und frequentieren die Ärzte noch häufiger.

Am Ende leiden darunter nicht nur die Patienten und ihre Angehörigen – sondern auch die Mediziner selbst. Der Hausarzt Wolfgang Kreischer, der auch ehrenamtlich für die Rentenkasse für Ärzte tätig ist, kann davon ein Lied singen. »Somatoforme und hypochondrische Störungen haben bei den Ärzten signifikant zugenommen«, sagt Kreischer, »wir haben im Berliner Ärzteversorgungswerk einen steilen Anstieg an psychosomatischen Erkrankungen, die zur Berufsunfähigkeit führen.«

Wie krank muss ein Gesundheitssystem erst sein, in dem schon die Therapeuten zu Hypochondern werden?

- dieser Text wurde 1:1 übernommen. Bilder wurden aus technischen Gründen entfernt. Da es sich um Copyrighted Text handelt, dient er nur dem informativen , persönlichen und nicht kommerziellen Gebrauch.
 
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