18.07.2009
Grippeexperte warnt vor Schweinegrippe-Hysterie
Der Grippeexperte Tom Jefferson, der für die internationale Cochrane Collaboration alle wissenschaftlichen Studien zum Thema Influenza auswertet, hält die Grippeviren für "systematisch überschätzt". Derzeit grassiere weltweit eine weitgehend unbegründete Schweinegrippe-Hysterie. Tatsächlich sehe er keinen grundsätzlichen Unterschied zu einer normalen saisonalen Grippewelle, sagte Jefferson gegenüber dem Nachrichten-Magazin DER SPIEGEL. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) habe Anfang Mai eigens ihre Pandemie-Definition geändert, um die Schweinegrippe zur Pandemie erklären zu können. Das Kriterium, dem zufolge es sich bei einer Pandemie um eine Krankheit mit hoher Sterblichkeit handeln müsse, sei dazu einfach gestrichen worden. "Ich finde es verrückt, welche Katastrophen uns Jahr für Jahr von den Grippeexperten vorausgesagt werden", sagte Jefferson im SPIEGEL. "Bislang ist keine von ihnen jemals eingetroffen." Um die Idee von der drohenden Influenza-Pandemie hätten WHO, Gesundheitsbehörden, Pharmaindustrie und Virologen im Laufe der Jahre eine ganze Maschinerie aufgebaut. "Alles, was es jetzt noch brauchte, um diese Maschinerie in Gang zu bringen, war ein kleines, mutiertes Virus." Tatsächlich sei das Influenza-Virus weitaus weniger bedeutsam als zumeist behauptet. So fielen die 10.000 bis 30.000 jährlichen "Grippetoten" in Deutschland keinesfalls alle der Influenza zum Opfer. Es gebe vielmehr über 200 weitere Erreger, die alle grippeähnliche Symptome verursachen könnten. Nur in sieben Prozent der Fälle seien Influenza-Viren der Krankheitsauslöser. Zur Zahl der "Grippetoten" würden auch die anderen Erreger deutlich beitragen. Dass sich Forschung und Öffentlichkeit ausschließlich für Influenza interessieren, erklärt Jefferson damit, dass es einzig gegen dieses Virus pharmazeutische Mittel gebe: "Mit den anderen Erregern lässt sich kein großes Geld verdienen." Allerdings werde die Wirksamkeit von Grippeimpfstoffen gemeinhin weit überschätzt. "An der erhöhten Sterblichkeit während der Wintermonate ändert die Grippeimpfung gar nichts", erklärte Jefferson. Zudem wirke sie gerade bei Kindern und alten Menschen kaum - und damit genau bei jenen Gruppen, für die eine Impfung besonders empfohlen wird. Statt auf eine Impfung mit ungewisser Wirksamkeit und auf das Medikament Tamiflu zu setzen, das die Krankheitsdauer im Durchschnitt nur um einen Tag verkürzt, empfiehlt Jefferson, sich regelmäßig die Hände zu waschen. Das sei nachweislich der beste Schutz vor einer Infektion - nicht nur mit dem Schweinegrippe-Virus.
© DER SPIEGEL 30/2009
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