Das wundersame NO
Die späte Karriere eines kleinen Moleküls. Stickstoffmonoxid (NO) ist ein Giftgas – und gleichzeitig unverzichtbar für das Leben. Es reguliert den Blutdruck, hilft beim Lernen und richtet den Penis auf. Möglicherweise bekämpft es auch Krebszellen. Die Pharmaforschung versucht, den Tausendsassa zu bändigen.
Stickstoffmonoxid atmet man besser nicht ein. Gasmasken und ausreichende Lüftung sind auch beim Experimentieren mit kleinen Mengen ein unbedingtes Muß“, warnt der Merck-Index, eine Art Giftbibel für Labors...
In hohen Konzentrationen inhaliert, verätzt das aggressive Stickstoffmonoxid (NO) die Atemwege und blockiert den für den Sauerstofftransport lebenswichtigen roten Blutfarbstoff – kurz: NO ist ein Giftgas....
Allerdings eines mit einer zweiten Identität:... Produziert wird NO von der innersten Wandschicht der Blutgefäße, dem Endothel... Sie dünstet laufend einen leichten NO-Nebel aus, der Gefäßdurchmesser, Blutdruck und Blutgerinnung reguliert...Im Gehirn stellen dünne NO-Schwaden enge Kontakte zwischen Nervenzellen her, die vermutlich die Grundlage unseres Gedächtnisses sind...
Aktuelle Befunde deuten jedoch darauf hin, daß die NO-Produktion im Gehirn entgleisen kann – beispielsweise nach einem Schlaganfall. Dann, so der Verdacht der Neurologen, bringt das Gas Nervenzellen um. Daß NO durchaus ein Gift ist, beweist tagtäglich ein Heer weißer Blutzellen: Bei Infektionen dienen den Makrophagen dichte Wolken des aggressiven Sückstoffmonoxids als „Kampfgas“ gegen Bakterien und Pilze – und vielleicht auch gegen Krebszellen...
Das Gas wird vom Endothel beispielsweise dann produziert, wenn die Wandzellen zu starken Strömungskräften ausgesetzt sind, weil der örtliche Blutdruck zu hoch ist. Damit ist NO Teil eines Regelkreises, mit dem sich auch die Blutgefäße im kleinen Zeh eigenständig auf wechselnde äußere Bedingungen einstellen und für eine optimale Blutverteilung sorgen können...
Rohstoff für die Gasproduktion ist die stickstoffhaltige Aminosäure Arginin, an die das Enzym molekularen Sauerstoff ankoppelt. Pro Arginin-Molekül wird schließlich ein Molekül NO abgespalten, während der große Rest der Aminosäure in ein Recyclingverfahren eingeschleust wird...
Viel weiter kommt es nicht. NO ist wegen seiner ungeraden Zahl an Elektronen ein Radikal und chemisch so angriffslustig, daß es mit einer Halbwertszeit von nur fünf bis zehn Sekunden mit Sauerstoff und Wasser zu wirkungslosem Nitrat reagiert. Das meiste NO verläßt so am Ende den Körper als Salzspur im Urin...
Doch bevor sie vom Sauerstoff abgefangen werden, hatten die NO-Moleküle für kurze Zeit mit einem anderen Zellbestandteil Kontakt: mit Eisen-Ionen. Eisen und NO ziehen sich gegenseitig an wie zwei Magnete. Diese Anziehungskraft ist es wohl, die dem Giftgas überhaupt eine biologische Karriere ermöglicht hat: NO bietet eine elegante Möglichkeit, eisenhaltige Enzyme unmittelbar zu beeinflussen...
Daß dieses Gas eine Rolle als Botenstoff von Nervenzellen, als Neurotransmitter also, spielen könnte, war jedoch zuerst für das Gehirn vermutet worden. Daraufhin hatte Solomon Snyders Forschungsteam 1990 mit spezifischen Antikörpern auch im Gehirn nach der NO-Synthase gesucht. Fündig wurde die Gruppe unter anderem im Kleinhirn und im Hippocampus, der eine wichtige Rolle beim Abspeichern von Gelerntem spielt. Mitterweile gibt es weitere Hinweise, daß NO ein Transmitter ist, mit dem Nervenzellen die Stärke ihrer Verbindungen untereinander erhöhen können, um Gedächtnis aufzubauen...
Bei einem Schlaganfall etwa kommt es durch verstopfte Blutgefäße in einem Gehimbereich zu Sauerstoffmangel. Offenbar reagiert ein Teil der unterversorgten Zellen mit einer außergewöhnlich starken Freisetzung des Neurotransmitters Glutamat. Glutamat ist jedoch ein sehr wirksamer Aktivator der NO-Synthase.
Zuviel Glutamat könnte also – so die Hypothese – zuviel NO zur Folge haben. Und bei hundertfach überhöhten NO-Konzentrationen überwiegt der toxische Charakter des Gases: Wahrscheinlich vergiftet eine Uberdosis des eisenliebenden Gases in den durch den Sauerstoffmangel an den Existenzrand gedrängten Nervenzellen ausgerechnet solche eisenhaltige Enzyme, die diese dringend zur Notversorgung mit Energie bräuchten.
Der Schuiß geht nach hinten los.
Hinzu kommt, daß NO unter bestimmten Voraussetzungen sehr schnell mit Sauerstoff zu einigen der aggressivsten Stoffe reagieren kann, die die Chemiker kennen. Während die NO-Zellen jedoch eine wirksame Entgiftungsmaschinerie besitzen, sind ihre Nachbarn den ungewohnt hohen Gift-Konzentrationen hilflos ausgeliefert – erst werden wichtige Moleküle zerstört, schließlich stirbt die Zelle.
Unterstützt wird dieses Modell dadurch, daß Hemmstoffe der NO-Synthase im Tierversuch die Schäden nach einem Schlaganfall um 75 Prozent reduzieren können, während andererseits Arginin, die Ausgangssubstanz des NO, den Zelltod im Hirn noch verstärkt...