Eine wahre Geschichte
Der Ameisenkönig
In der 1. Klasse an einer Montessorischule ging es locker zu, wie es halt dort so erlaubt war. Kinder konnten konzentriert arbeiten, oder die Zeit des freien Arbeitens wählen, in der dann schon mal Projekte zustande kamen die außergewöhnlich waren.
So war es mit dem Jungen C. der sich als Ameisenkönig fühlte und sein größter Feind war der Ameisenbär, der öfter mal wechselte, je nachdem er einen anderen Jungen leiden konnte oder nicht.
Wenn C. schlecht gelaunt war, kam er mit seiner Hand, die er zu einer grotesken Schattenfigur formen konnte und sie „ Pußhand“ nannte und zwickte den ungeliebten Kameraden empfindlich in den Arm, oder da wo er ihn sonst gerade erwischte.
Dieser Ameisenkönig hatte auch eine Königin, die natürlich das netteste Mädchen der Klasse war. Sie konnte hinreißend Schlittschuhe fahren, ja tanzen auf dem Eis und war ein kluges Mädchen, von dem sich der Junge C. gerne was erklären ließ. Der König konnte sehr gut zeichnen und stellte hinreißende Szenen auf dem Papier dar, wie sich das mit dem Ameisenvolk so verhält und was es gerade zu erdulden oder erleiden hat, aber auch was es gerade zu feiern gab.
Alle Kinder der Klasse respektierten den Jungen, und er tobte seine Macht aus, manchmal sogar bis über die Hutschnur. Einmal stach er seinen Lehrer mit einem spitzen Bleistift mitten in die Hand, sodaß der unter dem Schmerze zusammenzuckte. Der Grund war, er sollte schreiben lernen, was er aber unter gar keinen Umständen wollte.
Eines Tages erzählte ich meinem Mann von dem Buben und der erinnerte sich, daß er als Kind ein Buch besessen hatte das „Butziwackel der Ameisenkönig“ hieß.
Ich begann meine Suche nach diesem Buch in der Theresienstraße im ersten Buchantiquariat das ich kannte.
Ich öffnete die Eingangstüre, stieß dabei an den Besitzer des Ladens und fragte ihn frei von der Leber weg, ob er dieses Buch hätte. Der brauchte keinen Schritt zu tun, er griff einfach über sich ins Regal und zog in der Höhe von 2 Metern ein Buch heraus und reichte es mir. Es war das gesuchte Werk von Luigi Bertelli (Pseudonym Vamba 1893) "Butziwackel der Ameisenkaiser". Man beachte bei einer Menge von geschätzt 50000 Büchern stand das da und wurde auch sofort gefunden, phantastisch!
Ich meine, es kann mir keiner verdenken, wenn ich damals dachte, diese Begebenheit ist verdächtig schicksalhaft. Da muß etwas dahinter stecken, dem ich nachgehen sollte.
Wir dachten, daß der Junge C. der aus einem Waisenhaus gekommen war und dessen Pflegerin ihn zu sich nach Hause geholte hatte, in seiner Vergangenheit dort einen schmerzlichen Verlust gehabt haben mußte. Vielleicht war eine andere Pflegerin weggezogen oder krank geworden und hatte eine angefangene Geschichte, nämlich die des Ameisenkönigs nicht zu Ende bringen können, sodaß der kleine Kerl in der Handlung stecken geblieben war und nicht mehr selbständig herauskam. Wie auch immer, es konnte nicht beantwortet werden, weil der Junge nicht darüber sprach.
Ich sprach mit dem Psychologen der Schule und erzählte ihm meinen Verdacht, gab ihm das Buch zu treuen Händen und verlor es dadurch wieder, weil der Unglücksrabe es verlegt hatte und nicht mehr fand. Er unternahm auch nichts in der Hinsicht und wertvolle Zeit verstrich.
Ich suchte das Buch ein zweites Mal und fand es wieder, aber dieses Mal in einem anderen Laden, obwohl es eigentlich sehr selten war.
Als der Junge in der 4. Klasse immer noch nicht viel weniger Ameisenkönig sein wollte, sprach ich einmal mit seiner Tante, bei der er inzwischen lebte. Ich gab ihr das Buch und wir sahen uns nie wieder. Nach Jahren habe ich sie einmal angerufen und gefragt, wie es dem Jungen C. denn jetzt ginge, da hat sie mir erzählt, daß es ihm gut geht und daß er in einer beschützenden Einrichtung wäre die ihm Lebenshilfe gibt.
Nach dem Buch gefragt erzählte sie mir, daß sie ihm das Buch nach und nach über lange Zeit hinweg vorgelesen hätte und daß er Todesängste ausgestand hätte, und immer wieder lange Zeit gebraucht hätte um die weiteren Texte anhören zu können.
Nun wußte ich, daß ich recht gelegen hatte. Der Junge C, ist heute von seinem Tick befreit und wir sind glücklich, daß wir ihn gekannt haben. :kiss:
PS
ich würde mich freuen, wenn ich ein wenig Reaktion aus dem Leserkreis hervorholen könnte.
Mein Eintrag steht dafür, daß hinter Kindern, die Schulschwierigkeiten haben eine massive Geschichte stehen könnte, der man nachgehen kann.
Vielleicht braucht es dazu aber einen neuen thread, den man noch erstellen müßte.
Die heutigen Kinder sind eventuell die Nutzer dieses Forums, vielleicht in 10 Jahren und keiner weiß dann mehr, wie das gekommen ist.