Mit dem Placebo-Effekt zur „emotionsbasierten“ Medizin

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Ein Placebo ist ein „Leermedikament“ und kommt als Doppelgänger einer echten Pille, einem „Verum“, daher. Da es ohne pharmakologischen Wirkstoff auftritt, sollte es keinerlei Wirkung hervorbringen. Und doch gibt es den Placebo-Effekt: Heilung oder Linderung einer Krankheit, ohne dass eine Substanz dafür verantwortlich wäre. Mit dem Placebo hat er nichts zu tun; das Wort im Begriff soll nur ausdrücken, dass da etwas von selber geschieht, dass der Körper (durch die Psyche) sich selber hilft. Der Placebo-Effekt ist kein Pseudo-Effekt; etwas im Körper hat sich dauerhaft zum Besseren verändert, und es genügte, dass symbolisch etwas da war, das Heilung verhieß. Mit Magie hat das nichts zu tun, und ein Wunder ist auch nicht geschehen. Geheilt hat der Glaube; es war Selbstheilung, eingeleitet durch das vermeintliche Medikament, das Katalysator spielte.

Der Placebo-Effekt, die unbekannte Größe

Nehmen wir an, ich habe einen hartnäckigen Schmerz, der mir keine Ruhe lässt. Ich gehe zur Ärztin, bekomme eine Pille, und es geht mir bald besser. Hat die Pille das getan? Nicht allein; ihr Wirkstoff wird wohl an der schmerzenden Stelle „angekommen“ sein, doch zur selben Zeit mobilisiert sich der ganze Organismus, wenn er die Besserung erwartet. Das Ritual des Praxisbesuchs, das aufmunternde Lächeln der Ärztin und die eigene feste Überzeugung, dass es gut werden müsse, schaffen Zuversicht und lassen den Körper in den „Selbstheilungs-Modus“ gehen, wie man heute sagen würde. Das ist der Placebo-Effekt, hier ohne Placebo, von dem er nur seinen Namen hat. Er hat seinen Anteil am Verschwinden des Schmerzes, doch wir groß dieser Anteil ist, lässt sich nicht angeben.

Der Inhaltsstoff der Pille hat allenfalls ein Symptom beseitigt. Heilung will man das noch nicht nennen. Der Placebo-Effekt dagegen wirkt unspezifisch und ganzheitlich in dem Sinne, in dem ein thrakischer Arzt bei Plato einmal zu Sokrates sagte: „Den Teil durch das Ganze heilen!“ Es gebe, sagte der Arzt, doch tatsächlich Ärzte, die meinten, man könne den Körper ohne die Seele heilen; doch das sei falsch.

Forschungen in klinischen Arzneimittelstudien zeigten zuverlässig, dass auf das Konto der pharmakologischen Substanz nur etwa 25 Prozent der Besserung gehen. 25 Prozent der Wirkung sind auf Schwankungen zurückzuführen (vielleicht war man schon auf dem Weg der Besserung) und 50 Prozent auf den Placebo-Effekt (den man eigentlich im Plural nennen müsste, da er auf verschiedenen Ebenen eintritt). Durch ein gutes Grundgefühl wurde die „innere Apotheke“ angeregt, aber wie das genau abläuft, wissen wir nicht. Heilung ist etwas Natürliches, bleibt aber in ihren Details gleichwohl ein Mysterium.

Liebe als „höchste Arznei“

Der Placebo-Effekt wird als die positive Wirkung verstanden, die durch den symbolischen Kontext einer Behandlung und die menschliche Zuwendung entsteht. Die höchste Arznei sei die Liebe, schrieb der große Schweizer Heiler Paracelsus vor 500 Jahren. Ihm war eine gute Atmosphäre im Krankenzimmer stets wichtig. Ich bekomme also das Signal, dass mir geholfen wird, und so werden in mir Botenstoffe ausgeschüttet, ganze abgespeicherte Heilverläufe werden abgerufen, hilfreiche innere Substanzen (Endorphine) setzen sich in Bewegung, und Besserung tritt ein. Der konkrete Auslöser kann ja eine Pille sein (besser noch, wie Studien zeigen: eine Spritze; maximale Wirkung: Spritze vom Arzt in der Klinik verabreicht), jedoch eigentlich könne alles, richtig eingesetzt, Medizin sein, lehrt Ayurveda, und ein schön verpacktes Nichts tut es auch.

Wir müssen leider mit dem Begriff Placebo-Effekt leben, der, wie Professor Harald Walach – er hatte lange einen Stiftungslehrstuhl für Komplementärmedizin inne – einmal geschrieben hat, ein „medizinisches Schimpfwort“ ist. Der Mechanismus der Selbstheilung wurde unseligerweise mit dem Makel „Placebo“ verknüpft. Besserung ohne Pharma, wird uns damit suggeriert, kann nicht das Wahre sein. Der Bannfluch Placebo dient leider auch dazu, alternative Therapien abzuqualifizieren: alles Einbildung, soll das heissen; nichts dahinter. Für den Placebo-Effekt ist neben Glaubens-Effekt und Selbstheilung als Synonym von dem US-Anthropologen Daniel Moerman „Bedeutungseffekt“ vorgeschlagen worden (der Patient legt dem Mittel Bedeutung bei), und auch ein „Care Effect“ kam ins Spiel, der die Zuwendung (to care: umsorgen, pflegen) thematisiert, doch man hat ihn dem Placebo-Effekt zur Seite gestellt, und so wird alles nur noch komplizierter.

Gefallen wollen

Im 14. Jahrhundert fing eine Totenmesse immer mit dem Wort Placebo an: „Placebo Domine in regione vivorum“ sang man, und das ist Vers 9 aus Psalm 116, in dem jemand geheilt wurde. Da er gottgefällig lebte, darf er „vor dem Allerhöchsten im Reich der Lebenden wandeln“, und er „gefällt“ (placebo: ich gefalle) dem Herrn, ist ihm wohlgefällig. Manchmal schlichen sich Arme ein und beteten besonders laut „Placebo“ in der Hoffnung, sich hinterher an der allgemeinen Tafel sattessen zu können. Seither war Placebo gleichbedeutend mit Schmeicheln und Täuschen, mit dem Gefallenwollen.

Der französische Satiriker Voltaire sagte einmal, der Arzt müsse mit seinen Mitteln den Patienten „amüsieren“ (oder ihm „gefallen“), bis die Heilung von selbst einträte, und manche Arznei verschrieb ein Mediziner, weil sie ihm selbst gefiel. Noch in Voltaires Jahrhundert, dem achtzehnten, kannte man dieselben 840 Mittel, die seit dem Altertum bekannt waren, und Zyniker nennen jede Medizin vor 1900 „Placebo-Medizin“, da die Ärzte nicht viel gewusst hätten und eine Pharma-Industrie es nicht gab. Tatsache ist aber, dass dennoch Menschen geheilt wurden und dass auch Tiere in freier Wildbahn genesen – ohne Arzt und Krankenhaus.

Später wurde viel erreicht, die großen Epidemien gehören der Vergangenheit an, doch immer noch ist die perfekte Pille, die „magische Kugel“, die sich der deutsche Chemiker Paul Ehrlich wünschte, ein Wunschtraum. Die Pharmakologie ist in den hundert Jahren seit dem Tod des Immunologen (1915), der einen Wirkstoff gegen die Syphilis fand, ungeahnt weit gekommen, doch Medikamente treffen nicht genau ihr Ziel und werden obendrein oft unsachgemäß verschrieben und eingenommen. Man schätzt, dass in Deutschland jedes Jahr 30.000 Menschen durch Neben- und Wechselwirkungen von Medikamenten sterben, wie im ARD-Fernsehen im August 2017 der Chefarzt der Notaufnahme der Klinik Fürth erwähnte, Professor Harald Dormann; in den USA kursiert die Zahl von drei Millionen Toten in den vergangenen 30 Jahren.

Nichts verschreiben statt frommem Betrug

Bei schweren Leiden sind hochdosierte Medikamente unumgänglich. Der Placebo-Effekt greift dagegen eher bei den 60 bis 80 Prozent der Krankheiten, mit denen Patienten in die Arztpraxis kommen und die eine gewisse psychische Komponente haben, etwa bei Migräne, Depressionen und Schmerz. Wenn operiert werden muss, sollte er keine Rolle spielen, könnte man meinen. Doch da irrt man sich. Bei einer Studie fühlten sich Patienten mit Knie-Arthrose, bei denen man statt einer Operation nur Einschnitte vorgenommen hatte, auch zwei Jahre danach noch gebessert. Bei manchen Eingriffen am Herzen half auch eine fingierte Operation (wie immer man das hingedreht hat). Bei Operationen wirkt selbstverständlich die Psyche mit; die Professionalität des Teams weckt die Überzeugung, dass man geheilt werden wird. Fehlt sie, droht Gefahr. Es hat Operateure gegeben, die auf einen Eingriff verzichteten, wenn ein Patient Skepsis äußerte.

Der Glaube ist zentral. Ich statte das Mittel, das mir verschrieben wird, mit Bedeutung aus, denn es ist fraglos ein materialisiertes Heilungsversprechen. Das Placebo mimt erfolgreich eine echte Arznei. Es zu verschreiben, wie es Ärzte immer wieder getan haben, ist laut William Jefferson ein „frommer Betrug“. Früher war das einfacher, man hatte weniger ethische Bedenken. Heute kann der Mediziner allenfalls ein Mittel in einer so geringen Dosierung verschreiben, dass sie nicht wirken kann. Nebenwirkungen kann es dann nicht geben, höchstens psychologischer Art seien sie, wird eingewandt. Eine Placebo-Gabe sei ethisch anfechtbar und beschädige das Vertrauen zwischen Arzt und Patient, meinen Kritiker.

Um das auszuschalten, müsste man dem Patienten sagen: „Sie brauchen jetzt nichts, Sie schaffen das alleine. Gehen Sie, Ihr Glaube wird Ihnen helfen.“ Das klingt wie ein Wort Jesu und muss auch so gemeint sein: Geht es nicht um eines jener Leiden, die ohnehin von selbst heilen, sollte fester und unbeirrbarer Glaube (auch der Ärztin) herrschen. Davor schon soll Hippokrates gesagt haben, nichts zu verschreiben könne manchmal auch richtig sein. Kürzlich kam bei Studien (eine an der Universität Basel) heraus, dass Placebos auch wirken, wenn sie als solche angekündigt werden. Die Sprachregelung lautet dann so: „Ich gebe Ihnen da was, in dem kein Wirkstoff ist, das aber schon vielen geholfen hat.“ Man vergisst immer, dass ein Mittel jeglicher Art zu geben ein Heilverfahren ist und nicht nichts. Schon ein gutes Wort hilft und Gespräche helfen, was der Erfolg von Psychotherapie zeigt.

Ein unzuverlässiger „Ur-Meter“

Mit dem Placebo-Effekt ist immer zu rechnen, und sagen wir es noch einmal: Mit dem Placebo hat er nichts zu tun. Auf dieses stürzte sich die Arzneimittelforschung: Da es ohne Wirkstoff ist, könnte man am Placebo die Qualität neuer Medikamente messen. Und so testet man sie seit Jahrzehnten, indem eine Gruppe Probanden die echte Substanz erhält, eine Kontrollgruppe dagegen (ohne ihr Wissen) ein Medikament ohne Wirkstoff. So wird das in randomisierten doppelblinden Arzneimittelstudien gemacht.

Randomisiert heisst zufällige Auswahl von Studienteilnehmern, und doppelblind heisst: Der Patent weiß nicht, was er bekommt, und die Person, die das Mittel verabreicht, weiß es auch nicht. Aber die ganze Prozedur ist ein Ritual, und der Placebo-Effekt – wohltuende Wirkungen ungeachtet eines Inhaltsstoffes – könnte bei einem echten Mittel stärker sein als bei einem Placebo. Man müsste, meinten Kritiker, ein Arzneimittel mit einer Gruppe vergleichen, die wirklich nichts bekomme. Das ist aber schwer umzusetzen.

Man arbeitet zuweilen mit dem balancierten Placebo-Design: Eine Gruppe bekommt ein „Verum“, das man ihr als Placebo verkauft, eine zweite Gruppe ein Placebo, das ihr als Verum angepriesen wird, während einer dritten und vierten Gruppe bei der Gabe von Verum und Placebo jeweils die Wahrheit gesagt wird. Hinterher darf gerechnet werden. So wird getrickst, um herauszufinden, wie das „Wahre“ wirkt, und damit setzt sich das scheinbar Zwielichtige und Trugartige des Placebos in der Forschung fort. Sucht nicht auch der Patient den „wahren“ Arzt, der seiner Vorstellung entspricht und der Arzt den „wahren“ Patienten, der wirklich krank ist?

Ein Placebo ist jedenfalls alles andere als ein verlässlicher „Marker“ oder Ur- Meter bei den erwähnten Studien, weil der Placebo-Effekt greift. Wer heute stark auf ein Placebo anspricht, reagiert in zwei Jahren vielleicht gar nicht mehr. Oder noch stärker. Denn in den vergangenen Jahren wurde bekannt, dass der Placebo-Effekt bei Arzneimittelstudien stärker geworden sei. Weshalb, weiß man nicht. Eine Studie der Pharmaindustrie ist eine richtig große Unternehmung. Die Teilnehmer sind wichtig und werden umsorgt. Das könnte in ihnen positive Prozesse auslösen. Man weiß ja, dass der Placebo-Effekt durch den Ausstoß von Endorphinen bewerkstelligt wird – während Stress und Anspannung negativ wirken und das Immunsystem beeinträchtigen.

Der schlimmste Stress ist, sich zum Tod verurteilt zu fühlen. Nach Verhexungen starben bei den „Völkern mit Tradition“ (ein Ausdruck von Dušan Gersi) viele Menschen, weil sie glaubten, dass es geschehen müsse: psychogener Tod. Ein Artikel darüber, den Walter Cannon 1942 veröffentlichte, war einflussreich. Er lenkte den Blick auf das „Nocebo“-Phänomen: Verschlimmerung einer Krankheit bis zum Tod, bedingt durch den Glauben des Kranken, es gebe keine Hoffnung mehr. Patienten starben in Panik bei der Chefarzt-Visite oder exakt am Ende des Zeitraums, den ihnen der Arzt vorausgesagt hatte: Als hätten sie ihrem Arzt recht geben wollen. Den guten Placebo-Effekt pries dann Henry K. Beecher 1955 in seinem Beitrag „The powerful Placebo“, und seit den 1980-er Jahren wird eifrig darüber publiziert.

Emotionsbasiert statt evidenzbasiert

Man würde den Placebo-Effekt gern stärken wollen, ließ sich sogar die deutsche Bundesärztekammer in ihrem Bericht „Placebo in der Medizin“ vernehmen. Nur: Wie macht man das? Nichts weniger als eine Neudefinition von Therapie wäre vonnöten. Weniger Glaube ans Medikament, mehr Zeit und Zuwendung für den Patienten, der vom passiven Rezipienten zum Agenten seiner selbst werden müsste: zu einem, der an sein Heilpotenzial glaubt. Denn die anderen Agenten im Geschehen – Arzt, Ärztin; Apotheker, Apothekerin – stehen nämlich allmählich im Verdacht, Doppelagenten zu sein und mit ihrem Tun auch den System und dem eigenen „Geschäft“ dienlich zu sein.

Die Praktiker sollten den Kranken nur begleiten und ihm bei der Heilung durch die „Natur“ helfen. Sie könnten doch jeden Arbeitstag mit dem Vorsatz beginnen: „Ich will heute besonders liebevoll und geduldig sein.“ Damit würden wir uns auf eine emotionsbasierte Medizin zubewegen, und die evidenzbasierte träte etwas in den Hintergrund. Und statt des „frommen Betrugs“ sollten die Fakten auf den Tisch, denn der Placebo-Effekt ist ein Faktum. Doch das alles wird angesichts einer skeptischen Ärzteschaft und einer mächtigen Pharmaindustrie noch lange Zeit ein frommer Wunsch bleiben.

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Manfred Poser

Geboren 1957 in München und studierte dort Journalistik
Arbeitete bei dpa in Hamburg und am „Bender-Institut“ in Freiburg
Lebte danach in Rom und St. Gallen
Übersetzer ( „Leben nach dem Tod: der schlüssige Beweis“, „Alec Harris“)
Autor von Romanen („Mörderisches Rom“, „Tod am Tiber“)
Autor von Sachbüchern („Zeit & Bewusstsein“, „Der Placebo-Effekt“, „Radsport furios“, „Elektrosmog“)

Ein Kommentar in “Mit dem Placebo-Effekt zur „emotionsbasierten“ Medizin

FranzJosefNeffe November 24, 2017
Der "Placebo-Effekt" ist nur ein kleiner Unterpunkt im Hauptthema AUTOSUGGESTION. Wenn wir das erkannt haben, verstehen wir auch, wie man SUGGESTIV-WIRKUNG besser erkennt und nutzt. Nicht nur in der Medizin. Dann müsste uns auch sehr krass auffallen, a) dass Emile Coué vor hundert Jahren schon mit weltweitem PRAKTISCHEM ERFOLG vorgemacht hat, WIE ES GEHT und b) dass die Wissenschaft Coué bis heute ausgegrenzt und tabuisiert hat, weil er zu erfolgreich war und dass es c) so gut wie keine Forschung und Lehre über Autosuggestion gibt. Das ist für die Wissenschaft schlicht ein SKANDAL. Ich empfehle, sich erst einmal in das Thema einzuhören: https://www.youtube.com/watch?v=yUIp_otp5wc&t=35s http://quer-denken.tv/557-autosuggestion-von-und-mit-emile-coue/ Franz Josef Neffe

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